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Nachgefragt

Warum dezentrale Konzepte die Zukunft der Automatisierung sind

Dezentrale Automatisierungskonzepte ermöglichen die intelligente Verteilung von Steuerungsaufgaben und Ressourcen, wobei einzelne Einheiten autonom agieren und dennoch in Echtzeit miteinander kommunizieren. Das macht Prozesse in der Industrie nicht nur effizienter, sondern auch zuverlässiger und robuster. Zudem ermöglichen sie flexiblere Anpassungen an sich ändernde Anforderungen und fördern die Skalierbarkeit. Das SPS-MAGAZIN hat bei einigen Unternehmen, deren Fokus auf den Vorteilen solcher Konzepte liegen, nachgefragt, welches Potenzial diese Entwicklungen bieten und welche Lösungen bereitstehen.

Welche Technologietrends prägen aus Ihrer Sicht dezentrale Automatisierungskonzepte und -lösungen besonders bzw. werden sie prägen? Wo liegt aus Ihrer Sicht das größte Potenzial?

Daniel Siegenbrink, Beckhoff: Der Markt an dezentralen Lösungen wächst kontinuierlich. Bedingt durch neue Generationen an Leistungshalbleitern sind immer größere Motorumrichter für den direkten oder Near-by-Anbau an die Motoren verfügbar. Im Bereich der I/O-Signale reduziert der Einsatz von IO-Link-Sensoren die Vielfalt und Komplexität. Zugleich wächst das Portfolio an sicherheitsgerichteten Sensoren, welche sich direkt über die Feldbusse Ethercat oder Profinet an die Steuerung anbinden lassen. Ein weiterer Trend sind Hybridkabel und -steckverbinder, die dafür sorgen, dass neben Aktoren und Sensoren auch dezentrale Feldbusteilnehmer sich über nur ein Kabel an die Steuerung anschließen lassen. Auch im Bereich der Steuerungen tauchen immer mehr dezentrale Lösungen auf. Was bislang noch fehlte sind die Infrastrukturkomponenten wie 24VDC-Netzteile sowie die notwendigen Absicherungen. Diese werden bislang zumeist in Schaltschränken verbaut. Aber auch hier ist zu erkennen, dass die Anzahl der verfügbaren Komponenten wächst und sich immer mehr etablierte Unternehmen trauen, die sichere Umgebung ‚Schaltschrank‘ zu verlassen.

Das größte Potenzial liegt darin, die dezentralen Konzepte zu systematisieren und zu standardisieren. Anwender wollen sich aus einem klar definierten Baukasten bedienen und Komponenten unterschiedlicher Hersteller miteinander verbinden. Wunsch vieler Kunden ist es, keinen Schaltschrank oder nur noch in sehr geringem Umfang einen solchen einzusetzen.

André Hartmann, Bihl+Wiedemann: Die SPS in Nürnberg hat gezeigt, dass sich unsere Besucher neben den vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten von AS-Interface nicht nur für Themen wie Industrie 4.0, IIoT und Maschinensicherheit interessiert haben. In ganz vielen Fällen wurde auch über Aspekte wie Nachhaltigkeit, die Möglichkeiten zur Einsparung von Ressourcen oder auch über den sich immer mehr verstärkenden Fachkräftemangel gesprochen. Gerade vor diesem Hintergrund bietet AS-Interface, das standardisierte, herstellerunabhängige Verdrahtungssystem für die unterste Ebene der Automatisierung, für ganz viele Applikationen bereits heute zukunftssichere Lösungen. Denn mit ASi können sichere Signale und Standardsignale – auch weit verzweigt in einer Anlage – über ein Kabel ohne aufwändige material- und zeitintensive Verdrahtung eingesammelt und dorthin transportiert werden, wo sie benötigt werden: also vom Sensor bis in die Steuerung bzw. in die Cloud. Dabei ist es unerheblich, ob es sich um einfache oder intelligente Sensorik, z.B. mit IO-Link, handelt und welche Steuerung verwendet wird. Außerdem ist ASi abwärtskompatibel, was bedeutet, dass auch bestehende Applikationen einfach um neue Technologiegenerationen – ASi-5 und ASi-5 Safety – und damit um neue Funktionen ergänzt werden können, ohne zwingend Vorhandenes verändern und auf Bewährtes verzichten zu müssen.

Immer mehr 
etablierte Unternehmen trauen sich, 
die sichere Umgebung 'Schaltschrank' 
zu verlassen.
Immer mehr etablierte Unternehmen trauen sich, die sichere Umgebung ‚Schaltschrank‘ zu verlassen.“ Daniel Siegenbrink Produktmanager MX-System, Beckhoff Automation – Bild: Beckhoff Automation GmbH & Co. KG

Frank Woortmann, Phoenix Contact Electronics: Die Volatilität von Märkten sorgt zum einen für einen Bedarf bei der Flexibilisierung von Fertigungskapazitäten. Zudem entstehen durch individuelle Kundenwünsche zusätzliche Anforderungen hinsichtlich der Anpassungsfähigkeit der Steuerungstechnik. Sie sind ein wesentlicher Treiber für die Dezentralisierung von Steuerungs- und Elektrifizierungskonzepten. Dezentrale Anlagen lassen sich einfacher modularisieren, was eine flexiblere Reaktion auf sich ändernde Kundenwünsche oder Produktionsanforderungen erlaubt, beispielsweise die schnellere Adaption der Kapazität an den aktuellen Bedarf. Gleichzeitig sinkt der Kostenaufwand, denn durch die Modularisierung können Lösungen wiederverwendet werden, sodass sich Engineering- und Materialkosten verringern.

Trotzdem konnten sich dezentrale Steuerungskonzepte in der Fabrikautomation jahrelang nicht durchsetzen, da bei der Verkettung von mechatronischen Einheiten eine zusätzliche übergeordnete Steuerung für den Ablauf benötigt wird. Hier ist ein Umdenken notwendig, um dezentrale Automatisierung möglich zu machen. Dabei wird die Anlage in immer wiederkehrende Funktionen zerlegt und digitalisiert. Daraus ergeben sich viele Vorteile bei der Inbetriebnahme, aber auch bei der Modularisierung von Software mit Low-Code-Ansätzen. Mit einem digitalen Zwilling lassen sich Anlagen vor der Inbetriebnahme simulieren und ihre Funktionen für den reibungslosen späteren Betrieb testen.

Mit ASi können 
Signale - auch weit verzweigt - 
über ein einziges Kabel transportiert werden.
Mit ASi können Signale – auch weit verzweigt – über ein einziges Kabel transportiert werden.“ André Hartmann
Head of Sales Germany, Bihl+Wiedemann – Bild: Bihl+Wiedemann

Die schaltschranklose Installation durch die Verwendung von IP67-Modulen stellt einen wichtigen Schlüssel zur Dezentralisierung dar und führt zur Reduzierung von Schaltschranklösungen und Schaltkästen. Neben den Eingangs- und Ausgangsmodulen im Feld gibt es zunehmend auch IP67-Lösungen für die Energieversorgung und Steuerungstechnik. Die bessere Vernetzbarkeit durch leistungsfähigere Netzwerktechnologien und sichere Bussysteme, standardisierte Protokolle wie OPC UA ebenso wie Wireless-Technologien – etwa WiFi 6 oder 5G – unterstützen die dezentralen Konzepte außerdem.

Es eröffnen sich zahlreiche Potenziale für dezentrale Steuerungskonzepte – von der modularen Maschine und dem Anlagenbau über die sequenzielle Produktion in Fabriken und die Intralogistik bis in die Prozessindustrie. Denn insbesondere in diesen Bereichen ist eine Dezentralisierung der Elektrifizierung und Automatisierung sinnvoll. Gerade die dezentrale Modularisierung erhöht die Reaktionsfähigkeit und Effizienz und spart Zeit und Kosten.

Olaf Ophoff, Turck: Dezentrale Automation ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für den modularen Maschinenbau. Nur wenn Anlagenteile und Maschinenmodule intelligent sind, können diese nach dem Baukastenprinzip vor Ort effizient installiert werden. Das erfordert robuste und schaltschranklose IP67-Lösungen, auch und vor allem für die Intelligenz und Steuerfähigkeit der einzelnen Module und Anlagenteile. Damit kann jedes Modul weiter funktionieren, auch wenn ein anderer Teil einmal stillsteht.

Die dezentrale Automation erlaubt es darüber hinaus, sehr schnell und nahezu latenzfrei zu steuern. Die effiziente Vernetzung der Module spielt bei diesen Konzepten eine große Rolle. Dadurch sind die Daten der einzelnen Einheiten direkt in der Automation und der überlagerten Orchestrierungsebene vorhanden und können parallel auch zu Monitoringzwecken im Sinne der Industrie 4.0 genutzt werden. So werden Maschinen nicht nur resilienter, sondern auch flexibler, schneller, effizienter im Engineering und durch ihre Universalität sowohl in der Fertigungskette ausbaubar als auch im Lebenszyklus der Anlage viel beherrschbarer.

Mit welchen Besonderheiten bzw. Alleinstellungsmerkmalen positionieren Sie sich im Bereich der dezentralen Automatisierung?

Daniel Siegenbrink, Beckhoff: Trotz IO-Link wächst unser Portfolio an dezentralen Ethercat-Box-Modulen. Das Portfolio umfasst mittlerweile mehr als 200 verschiedene Module, für eine Vielzahl unterschiedlicher Signale. Ein solch breites Portfolio sehen wir in der Form nicht noch einmal am Markt. Im Bereich der dezentralen Servoantriebe haben wir eine sehr kompakte Variante entwickelt, die den Unterschied zwischen Motoren mit und ohne Umrichterfunktion sehr gering ausfallen lässt. Dazu kommt unser Ansatz des MX-Systems. Hier standardisieren wir die Verbindung der unterschiedlichen Komponenten, indem wir sie über eine Backplane verbinden. Diese Backplane stellt den Teilnehmern unterschiedliche Spannungslevel sowie Ethercat als Feldbus zur Verfügung. Das Portfolio umfasst neben Funktionseinheiten, wie z.B. Antriebe, Industrie-PCs und I/O-Einheiten, eine Vielzahl von Infrastrukturelementen. Erst deren Einsatz ermöglicht es, vollständig auf Schaltschränke verzichten zu können. Funktionsblöcke, die alle notwendigen Aspekte einer 63A-Einspeisung enthalten, sind in dieser Form ebenso einmalig wie dezentrale Leistungsabgänge mit integrierter Überwachung von Strömen und Spannung. Der Einsatz der seit Neuestem normierten Beckhoff Hybridsteckverbinder-Serie ermöglicht es, mit dem MX-System Maschinen auf sehr einfache Weise zu modularisieren. Mit dem MX-System und dem bereits langjährig etablierten Portfolio dezentral einsetzbarer Komponenten sieht sich Beckhoff als Vorreiter auf dem Weg in eine schaltschranklose Zukunft.

Frank Woortmann, Vice President Factory Automation, Phoenix Contact Electronics:
Um dezentrale Automatisierung möglich zu machen, ist ein Umdenken notwendig.
Die dezentrale Automatisierung erhöht die Reaktionsfähigkeit und Effizienz der Maschinen und Anlagen. Darüber werden Zeit und Kosten eingespart.“ Frank Woortmann, Vice President Factory
Automation, Phoenix Contact Electronics, Bad Pyrmont – Bild: Phoenix Contact Deutschland GmbH

André Hartmann, Bihl+Wiedemann: Für AS-Interface, das in vielen Branchen und Applikationen bereits heute bevorzugt für die Anbindung von Sensoren und Aktuatoren eingesetzt wird, sprechen nicht nur der drastisch reduzierte Verdrahtungsaufwand mit Hilfe der Durchdringungstechnik – wodurch auf eine Vorratshaltung von teuren vorkonfektionierten Kabeln mit Steckverbindern in unterschiedlichen Längen und auf Switches verzichtet werden kann, sowie die freie Wahl der Anlagentopologie und die kostengünstige Integration von Safety auf derselben Infrastruktur – sondern auch seine Zukunftssicherheit. Mit der neuen AS-Interface-Generation ASi-5, die ASi-5 Safety mit einschließt, lassen sich größere Datenmengen jetzt deutlich schneller übertragen und intelligente Sensoren und Aktuatoren mit ASi-5- und IO-Link-Schnittstelle genau dort einfach in der Anlage integrieren, wo man sie braucht. Dadurch ergeben sich zum einen viele neue Einsatzmöglichkeiten für die schon immer auf Dezentralität und Flexibilität ausgelegte ASi-Technologie mit dem umfangreichen Produktportfolio von über 350 Automatisierungsherstellern, von denen immer mehr mittlerweile auch ASi-5-Lösungen anbieten. Zum anderen lassen sich jetzt auch immer mehr konkrete Anwendungsfälle im Sinne von Industrie 4.0 mit ASi-5 umsetzen.

Frank Woortmann, Phoenix Contact Electronics: Mit unserer neuen übergeordneten Digitalisierungssoftware Moryx, mit der funktionale Einheiten mit einem digitalen Zwilling für den Prozessablauf verschaltet werden können und in der wir alle prozessrelevanten Daten wieder in digitalen Zwillingen sammeln und analysieren, werden die Vorteile der dezentralen Automatisierung jetzt nutzbar. In Moryx läuft auch die Diagnose zusammen und wir bringen die Aufträge rüstoptimiert auf die Fertigungslinien. Das große Potenzial liegt darin, dass sich so eine Modularisierung und die damit verbundene Flexibilisierung der Fertigung umsetzen lässt. Die Anlagen können in Stückzahl und Varianz mitwachsen. Die funktionalen Einheiten und die Software sind nicht mehr individuell, sondern erprobt und werden nur noch angepasst. Phoenix Contact lebt das seit Jahren in der eigenen Produktion und sieht den großen Vorteil darin, dass die Echtzeit- und Safety-Kommunikation in der dezentralen Steuerung verbleibt und alles andere On-the-Edge oder in der Cloud läuft.

Unterstützt wird der dezentrale Steuerungsansatz durch dezentrale Systeme für die Elektrifizierung: intelligente IP67-Stromversorgungen und Switches, eine zuverlässige Kommunikation über WLAN, WiFi 6 bis zu 5G sowie offene Protokolle wie OPC UA und MQTT. Durch die Anwendung und Zertifizierung unserer Produkte entsprechend der Security-Norm IEC62443 erweist sich die Lösung darüber hinaus als zugriffssicher.

Olaf Ophoff, Leiter Geschäftsbereich Automation Systems, Turck:
Die dezentrale Automation erlaubt es, sehr schnell und nahezu latenzfrei zu steuern.
„Nur intelligente Maschinenmodule können effizient im Baukastenprinzip fungieren.“ Olaf Ophoff, Leiter Geschäftsbereich Automation Systems, Turck – Bild: Turck

Olaf Ophoff, Turck: Die schaltschranklose Automation steht bei Turck schon immer im Fokus. Vor allem mit unserem großen IP67-Portfolio sehen wir uns als Vorreiter der Branche. Sowohl die TBEN-Blockmodule, die bereits auf der Feldebene Steuerungsfunktion latenzfrei übernehmen, noch bevor ein Signal an die übergeordnete SPS gesendet wurde, als auch voll modulare Systeme wie BL67 sind seit Jahren etabliert. Darüber hinaus sind diese Produkte echte Kommunikationsmaschinen, denn sie verfügen dank Ethernet-Multiprotokoll-Funktionalität über ausgezeichnete Vernetzbarkeit, die jeder Applikation, auch Hybridanwendungen, bestens gerecht wird.

Im Bereich der funktionalen Sicherheit gelten die gleichen von uns abgebildeten Prinzipien. Die Familie unserer Safety-Blockmodule kann dezentral die Safety-Steuerung übernehmen und ist bestens zur Standardautomation vernetzt, als Safety oder als Hybridmodul. Das bietet hohe Effizienz in den Architekturen der dezentralen Automation. Mehr noch, die Handhabbarkeit der dezentralen Automation wird durch Software, in diesem Fall Module Type Package MTP, bestens abgebildet und ist standardisiert in Fabrik- und Prozessautomation. Dieses Zusammenspiel von Software, Orchestrierungsebene und intelligenten, schaltschranklosen Automationskomponenten garantieren Effizienz, einfaches Handling und Universalität für flexiblen Maschinen- und Anlagenbau.

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