MX-System: Steckbare Systemlösung für die schaltschranklose Automatisierung

3. Reihe für das MX-System

Vergleicht man die Schaltschranktechnik der vergangenen Jahrzehnte, zeigt sich ein nahezu unveränderter prinzipieller Aufbau - gekennzeichnet von einem ebenso unverändert hohen Bauteil- und Verdrahtungsaufwand. Mit dem MX-System als modularem und steckbarem Automatisierungsbaukasten hat Beckhoff eine flexible und effiziente Alternative entwickelt. Details, insbesondere auch zur aktuellen Erweiterung um eine dreireihige Baseplate, erläutern Marvin Düsterhus und Dr. Friedrich Klasing vom Produktmanagement MX-System.
 Das modulare MX-System lässt sich mit einem breiten Spektrum an Funktionsmodulen an die jeweilige Applikation anpassen.
Das modulare MX-System lässt sich mit einem breiten Spektrum an Funktionsmodulen an die jeweilige Applikation anpassen.Bild: Beckhoff Automation GmbH & Co. KG

Das MX-System wurde im Jahr 2021 erstmals vorgestellt und soll den traditionellen Maschinenschaltschrank nicht nur verkleinern, sondern sogar komplett ersetzen. Wie haben sich Kundenreaktionen und -akzeptanz seither verändert?

Marvin Düsterhus: Seit der Vorstellung hat sich einiges getan. Wir haben bislang über 70 reale Applikationen erfolgreich in entsprechende MX-Systeme transformiert. Die Anfragen stammen aus unterschiedlichen Bereichen, von Prüfständen über Verpackungsmaschinen bis hin zur Automatisierung von Brauereien. Das zeigt, dass eine schaltschranklose Maschine mit unserem System für jede Applikation interessant sein kann. Denn mit dem MX-System ist es nicht nur möglich, den Schaltschrank an Ort und Stelle eins zu eins zu ersetzen, sondern durch die Aufteilung in kleinere Einheiten zudem die gesamte Steuerungstechnik modular und dezentralisiert anzuordnen. Diese Erkenntnis ist mittlerweile auch bei unseren Kunden angekommen. Die vollständige schaltschranklose Automatisierung – und somit das MX-System – bietet Lösungen für die Herausforderungen von heute und morgen, mit denen unsere Kundschaft konfrontiert wird. Hierzu zählen etwa die vollständige Modularisierung der gesamten Maschine, Standardisierungen in Komponenten und Prozessen, ein Ausgleichen des sich verschärfenden Fachkräftemangels sowie eine möglichst einfache Maschinenwartung.

Friedrich Klasing: Das MX-System wird nicht mehr nur als eine weitere Möglichkeit wahrgenommen, Automatisierungslösungen zu realisieren, sondern als Chance, sich vom Wettbewerb abzuheben. Die Modularisierung von ganzen Maschinen oder von Teilen ist tatsächlich seit Beginn der industriellen Revolution ein Grundsatz des Maschinenbaus, da die Vorteile für Reparatur und Wartung auf der Hand liegen. Entsprechende Ansätze finden sich auch seit den Anfängen der Computerprogrammierung in der Software und bei elektronischen Komponenten in der Hardware. Allein der Schaltschrank, das Bindeglied zwischen Mechanik und Elektronik, hat sich diesem Trend bislang entzogen. Das MX-System löst dies nun insoweit auf, als dass auch der Schaltschrank entsprechend dem Maschinenkonzept vollständig modular realisiert und dezentralisiert werden kann, mit den entsprechenden Vorteilen für Reparatur, Wartung und Betrieb. Branchen- und regionsübergreifend lässt sich ein wachsendes Interesse an unserem System feststellen. Wir erleben im Gespräch mit Kunden, wie neue und innovative Maschinenkonzepte entstehen, die mit herkömmlichen Methoden nicht oder nur mit erheblichem Mehraufwand umzusetzen wären. Das Verständnis ist spürbar gewachsen, wie auch die Nachfrage. Letzteres sorgt für einen Ansporn, im nächsten Jahr auch in Serie lieferfähig zu sein.

Seit der Vorstellung wurde das MX-System kontinuierlich ausgebaut. Was waren bisher die wichtigsten Entwicklungsschritte bzw. Neukomponenten?

"Der Fokus 
bei der dreireihigen 
Baseplate liegt 
auf der Erweiterung der Leistungsfähigkeit 
des MX-Systems."
„Der Fokus bei der dreireihigen Baseplate liegt auf der Erweiterung der Leistungsfähigkeit des MX-Systems.“Bild: Beckhoff Automation GmbH & Co. KG

Düsterhus: Viele Maschinen haben in Schaltschränken zusätzliche VPN-Router verbaut. Da wir diese nicht im eigenen Portfolio haben, mussten wir uns dafür etwas einfallen lassen. Hieraus ist das Infrastrukturmodul entstanden. Im Grunde ein Leergehäuse mit Anbindung an unsere Baseplate, aber auch Anschlussmöglichkeiten für die Außenwelt, mit dem sich solche, aber auch andere Geräte von Drittherstellern platzsparend in unser Ökosystem integrieren lassen. Die Familie der Netzteile hat ebenfalls Zuwachs bekommen. Insbesondere bei den 48VDC-Netzteilen stehen mit bis zu 40A leistungsstarke Ausführungen zur Verfügung, die speziell im Hinblick auf unsere Lösungen Atro und XTS entwickelt wurden, aber auch für Standard-48VDC-Komponenten angedacht sind. Weiterhin kann inzwischen die Pneumatik eingebunden werden. Hierfür stellen wir die Elektronik in Form von Sockelmodulen bereit, die handelsübliche Pneumatikventile direkt aufnehmen können und dann gemeinsam auf einer Baseplate montiert werden. Gerade in Anwendungen mit verteilten oder in Summe nur wenigen Ventilen, z.B. am Endeffektor eines Roboters, ist dies eine sehr kostengünstige und platzsparende Lösung. Ein weiterer großer Schritt stellt die Baugröße 3 für Baseplate und Funktionsmodule dar, die wir auf der SPS 2023 vorstellen werden.

Klasing: Die Pneumatikmodule sind in Zusammenarbeit mit Festo und SMC entstanden und stehen exemplarisch für die Integration von Technologien anderer Hersteller. Derartige Erweiterungen mit Mehrwert werden auch in Zukunft das Spektrum des MX-Systems bereichern. Das System wird für Erleichterungen in vielen Bereichen des Maschinenbaus stehen, auch bei der Dokumentation. Wir verfolgen einen völlig neuen Ansatz, wenn es um die Zusammenstellung und Aufbereitung der Inhalte geht. Wer benötigt wann welche Informationen? Das ist die Kernfrage, welche wir bei der Erstellung der Unterlagen immer wieder im Auge haben. Eine nicht zu unterschätzende Komponente ist die Beckhoff Diagnose-App. Wenn diese auch nicht ausschlaggebend für die Machbarkeit einer Maschine mit den Mitteln des MX-Systems ist, so wird sie den Umgang mit Maschinen im Feld nachhaltig beeinflussen. Sie bietet Servicekräften die Möglichkeit, auf bislang nicht zugängliche Informationen zuzugreifen und so die Servicequalität zu steigern – bei gleichzeitig reduzierter Einsatzdauer. In Verbindung mit den Eigenschaften des MX-Systems kann man auf diese Weise Downtimes verkürzen und die Produktivität steigern. Wir arbeiten aktuell an einer Lösung, die App als möglichen Access-Point für Off-Site-Techniker auszubauen. Ein weiterer Vorteil der Diagnose-App ist, dass man diese Informationen der gesamten Maschine zur Verfügung stellen kann und nicht nur einzelner Komponenten wie etwa IO-Link-Teilnehmern.

Was kennzeichnen die zur SPS 2023 neu vorgestellten Komponenten der Baugröße 3?

Düsterhus: Im Kern wird die Baseplate durch eine zusätzliche Reihe von Datensteckplätzen ergänzt, wobei aber alle Funktionsmodule der bestehenden Baugrößen kompatibel bleiben. Die Baseplate selbst hat, abgesehen von ihren Abmessungen, keine neuen technischen Kenngrößen, bietet aber neue Möglichkeiten: Bei gleicher Breite stehen nun deutlich mehr Steckplätze zur Verfügung, um mehr Funktionsmodule unterbringen zu können. Durch die zusätzliche Reihe können zudem neue dreireihige Funktionsmodule verwendet werden. Durch größer dimensionierte Kühlrippen lassen sich nun nicht nur Einspeisungen von 32A, sondern auch bis 125A realisieren und deutlich größere Lasten schalten. Ein Servoverstärker kann in Baugröße 3 pro Kanal bis zu 28A Nennstrom liefern und ein Frequenzumrichter einen Motor mit bis zu 15kW antreiben.

Klasing: Der Fokus liegt hier weniger auf der Integration neuer Funktionen, sondern auf der Erweiterung der Leistungsfähigkeit. Maschinen, die große Einspeiseleistungen benötigen, konnten bislang durch den MX-System-Baukasten nur bedingt und hybrid umgesetzt werden. Die dreireihigen Baseplates können den bislang in solchen Fällen notwendigen Schaltschrank zur Energieverteilung ersetzen, hierdurch können mehr und größere Maschinen vollständig schaltschranklos projektiert werden und damit wiederum die Vorteile der dezentralen Steuerungstechnik ausspielen. In der Topologie einer Maschine wird eine dreireihige Baseplate wohl immer oberhalb der ein- und zweireihigen Baseplates zu finden sein, als zentraler Punkt in einer Mischung aus Stern- und Daisy-Chain-Topologie.

Wie wichtig ist die Erweiterung des Baseplate-Portfolios in Hinblick auf die Maschinenmodularisierung?

"Wir haben 
bereits über 70 reale 
Applikationen erfolgreich 
in entsprechende 
MX-Systeme 
transformiert."
„Wir haben bereits über 70 reale Applikationen erfolgreich in entsprechende MX-Systeme transformiert.“Bild: Beckhoff Automation GmbH & Co. KG

Klasing: Der Schaltschrank wird der vollständigen Modularisierung einer Maschine – Mechanik und Elektrik – immer im Weg stehen, da dieser in jedem Fall Abhängigkeiten zwischen verschiedenen Maschinenteilen erzeugt und/oder sich nicht oder nur schwer in den Maschinenraum integrieren lässt. Ein breites Baseplate-Portfolio ermöglicht es Herstellern, die benötigten MX-Systeme für verschiedene Maschinenmodule leichter anzupassen. Das trägt zur Flexibilität bei, da Module und Komponenten leichter ausgetauscht oder hinzugefügt werden können. Durch die Erweiterung des Baseplate-Portfolios und mit dem damit einhergehenden Leistungszuwachs lassen sich deutlich mehr Maschinen ohne Schaltschrank realisieren. Sieht man einmal von den, meist größeren, modularen Maschinen ab, kann eine dreireihige Baseplate zudem für eine kleine monolithische Maschine mit relativ vielen 24VDC-Komponenten eine kostengünstigere Alternative zu zwei oder mehr ein- bzw. zweireihigen Baseplates darstellen.

Lässt sich das Einsparpotenzial hinsichtlich des Maschinen-Footprints anhand beispielhafter Zahlen verdeutlichen?

Düsterhus: Dies hängt immer von der jeweiligen Anwendung ab. Denn Schaltschrank ist nicht gleich Schaltschrank. Hier gibt es viele Unterschiede in den Abmessungen sowie bei Einbauort und -lage. Allgemein lässt sich sagen, dass sich durch das MX-System die benötigte Fläche in den Dimensionen Höhe und Breite im Vergleich zu einem typischen Schaltschrank auf ein Drittel reduziert. Die kleinen modularen Einheiten lassen sich viel einfacher in das Maschinenkonzept integrieren, sodass der Footprint reduziert werden kann. Ein konkretes Beispiel kann ich aus der Automobilindustrie nennen. Dort haben wir eine Maschine mit über 50 Servoachsen betrachtet, deren gesamter mechanischer Teil bereits vollständig modular aufgebaut ist. In den Maschinenmodulen befinden sich viele dezentrale I/O-Baugruppen und einige dezentrale Antriebe. Dennoch bleibt ein 7m langer, an der Maschinenseite platzierter Schaltschrank übrig. Er schränkt zum einen die Zugänglichkeit der Maschine ein, zum anderen muss die gesamte Verdrahtung aus den Maschinenmodulen dort hingeführt werden. Durch die Transformation zum MX-System entfällt der Schaltschrank komplett. Auch hier kommt eine dreireihige Baseplate mit einer 125A-Einspeisung zum Einsatz, die sternförmig sechs weitere MX-Systeme als Substationen der Maschinenmodule speist. So reduziert sich die Stellfläche der Anlage um etwa 10 Prozent.

Welche Anwendungsvorteile bietet die Kaskadierbarkeit des MX-Systems, auch mit Blick auf das erweiterte Baseplate-Spektrum?

Klasing: Das Daisy-Chaining mehrerer MX-Systeme ist nur eine der möglichen Topologien, um einen Schaltschrank zu ersetzen. Neben der Variante, mehrere Stationen über eine Leitung miteinander zu verketten, können diese auch wie ein Hub genutzt werden. Das bedeutet, es werden von einer ggf. zentralen Baseplate mehrere MX-System-Stationen parallel und/oder seriell mit Leistung und Ethercat versorgt. Unabhängig davon, ob kaskadiert oder in einer Sterntopologie verbunden: Das begrenzte Element ist die Leistung. Hier helfen die dreireihigen Module, da mit diesen eine netzseitige Einspeisung von bis zu 125A möglich ist. Auch der Einsatz von zentralen DC-Link-Modulen für die Erzeugung der 600VDC-Zwischenkreisspannung ist in der Baugröße 3 noch besser umsetzbar als bei Baugröße 2.

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