Beim Vorhaben, moderne Ansätze aus der Informations- und Kommunikationstechnik auf die Operational Technology (OT) zu übertragen, muss sich die heterogene Landschaft an Systemen zur Steuerung und Überwachung in der Fabrik interoperabel vernetzen lassen. Das würde völlig neue Möglichkeiten in Aussicht stellen, eine industrielle Produktion zu organisieren. Die Umsetzung dieser Vision hinkt jedoch den Erwartungen hinterher. Denn die Realisierung kommt einem grundlegenden Paradigmenwechsel gleich, dessen Vollzug aufgrund hoher technischer Komplexität und vieler beteiligter Stakeholdern schwer zu erreichen ist. Die Stuttgarter Maschinenfabrik am ISW der Uni Stuttgart stellt ein konkretes Umsetzungsprojekt für Industrie 4.0 dar. Ziel ist es, Realisierungshürden zu überwinden und Potenziale aufzuzeigen, die durch den Vollzug des Paradigmenwechsels ausgeschöpft werden können.
Service-orientierte Architekturen
Der Ansatz von Software-defined Manufacturing (SDM) erfordert ein grundlegendes Umdenken und die Neuerfindung zentraler Vorgänge und Elemente der Produktionstechnik insbesondere der OT. Bei der Realisierung wandlungsfähiger Produktionssysteme auf Basis von SDM kommen die klassischen, starr und hierarchisch strukturierten Architekturen der Automatisierungspyramide schnell an ihre Grenzen. Schließlich sind die hier verwendeten Softwaresysteme und Kommunikationsinfrastrukturen träge und nicht für häufige Updates ausgelegt. Während im Bereich der IT kontinuierliches Development und kontinuierliche Integration bereits seit Jahren Stand der Technik sind, lassen sich diese Konzepte nur bedingt auf die Automatisierungstechnik übertragen. Grund hierfür ist, dass unvorhersagbare Ausfälle von Teilsystemen im produktionstechnischen Umfeld, insbesondere unter Echtzeitanforderungen, nicht akzeptabel sind.
Echtzeitfähige, Service-orientierte Architekturen (SOAs) schaffen hier Abhilfe. Sie sind ein Architekturstil zur Realisierung modularer, verteilter Systeme, in denen Komponenten, die als Services bezeichnet werden, einander Funktionen zur Verfügung stellen. Eine kohäsive Anwendung ist dabei eine Kombination mehrerer Services. Zur Kapselung von Services eignet sich besonders die Virtualisierung auf Ebene des Betriebssystems (Container-Virtualisierung). Deren Vorteile lassen sich wie folgt zusammenfassen: Durch den Betrieb mehrerer virtueller Server oder Applikationen auf wenigen physischen Hardwareressourcen kann eine Senkung der Betriebskosten erreicht werden. Virtuelle Server oder Applikationen werden mit sich ergänzenden Ressourcenbedarfsprofilen auf einem physikalischen Rechnerknoten betrieben. Weil ganze virtuelle Server oder aber einzelne Services zwischen den physikalischen Server migriert und repliziert werden können, wird ein unterbrechungsfreier Betrieb bei Datensicherung, Hardware-Upgrades und Ausfällen möglich. Um die Vorteile von Service-orientierter Steuerungsarchitekturen vollständig ausnutzen zu können, wird ein echtzeitfähiges, deterministisches Verfahren zum kontinuierlichen Deployment benötigt, das am ISW umgesetzt und in die Stuttgarter Maschinenfabrik integriert wurde.
Kontinuierliches Deployment
Echtzeitservices werden dazu in Containern oder virtuellen Maschinen gekapselt. Linux gepatcht mit PREEMPT_RT wird als Betriebssystem verwendet und reservierungsbasiertes, hierarchisches Echtzeit-Scheduling basierend auf der SCHED_DEADLINE-Richtlinie eingesetzt. Das erlaubt eine simultane Integration von virtuellen Maschinen und Containern. Neben einer anfänglichen Bereitstellung profitieren die SOAs in SDM von einer dynamischen Rekonfiguration. Neue Versionen von Echtzeit-Diensten können automatisch nach dem Prinzip von kontinuierlichem Deployment in die Produktion gebracht werden. Somit wird sichergestellt, dass sich z.B. Updates zur Fehlerbehebung schnell abwickeln lassen. Um eine deterministische Durchführung dieser Updates zu realisieren, wird ein eigens entwickelter Kubernetes-Echtzeit-Controller in Kombination mit einer webbasierten Oberfläche eingesetzt, der eine unterbrechungsfreie Aktualisierung von Steuerungsanwendungen bei konsistenter Zustandsübertragungen zwischen alter und neuer Version ermöglicht.
In einer klassischen Fabrik hat jede Maschine ihre eigene Computing-Hardware und ein dediziertes Steuerungssystem. Ein Vorteil der Cloud-basierten Steuerungstechnik ist, dass Dienste auf beliebiger Rechnerhardware ausgeführt werden können. Im hier beschriebenen Anwendungsfall werden zwei containerisierte CNC-Kernel auf einem Edge-Knoten ausgeführt. Dabei werden die Sollwerte an zwei Maschinen der Maschinenfabrik, eine Dreiachs- und eine Fünfachs-Fräsmaschine, in Echtzeit übermittelt. Auf Basis des Update-Controllers wird ein Austausch der CNC-Kerne zur Laufzeit möglich. Die eingestellte Zykluszeit liegt bei 1ms und die Latenz bei 60µs. Perspektivisch werden die weiteren Maschinen der Stuttgarter Maschinenfabrik ebenfalls aus der Edge gesteuert.
Das ISW veranstaltet am 28. Februar und 1. März bereits zum sechsten Mal die Stuttgarter Innovationstage – diesmal ganz mit Fokus auf den digitalen Zwilling. Auf dem zweitägigen Kongress geben unsere Referenten aus Industrie und Forschung einen spannenden Überblick zu neuen Möglichkeiten, umgesetzten Lösungen und bereits gesammelten Erfahrungen aus diesem Bereich. Das SPS-MAGAZIN als Medienpartner lädt Sie herzlich ein, dabei zu sein. Weitere Informationen und Anmeldung unter:
www.stuttgarter-innovationstage.de
Artikelserie: Stuttgarter Maschinenfabrik
Teil 1: Die Stuttgarter Maschinenfabrik (SPS-MAGAZIN 10/2022)
Teil 2: Abbildung durch Verwaltungsschalen (SPS-MAGAZIN 11/2022)
Teil 3: Durchgängige Daten-Pipelines (SPS-MAGAZIN 13/2022)
Teil 4: Echtzeitsteuerung aus der Cloud (SPS-MAGAZIN 1/2023)
Teil 5: Safety aus der Cloud (SPS-MAGAZIN 2/2023)
Teil 6: Cloud Manufacturing (SPS-MAGAZIN 3/2023)
Teil 7: Highlights der Stuttgarter Innovationstage 2023 (SPS-MAGAZIN 4/2023)