Patentsystem und Mittelstand divergieren

„Patente geben ein scharfes Schwert“

Patente werden gemeinhin mit Erfindungen gleichgesetzt und gelten als etwas Gutes. Sie sind kein individuelles Grundrecht, sondern wurden zum Nutzen der Industriegesellschaft geschaffen mit einem zeitlich begrenzten Monopol - durchaus im Spagat zur freien Marktwirtschaft. Diese Balance hat sich in Industrie und Wirtschaft bewährt. Doch durch drohende Auswüchse im Patentsystem und eine überbordende Patentflut könnte ein Motor der Wirtschaft, der Mittelstand, ins Stottern geraten.
Bild: iC-Haus GmbH

In den missbräuchlichen Auswüchsen des Patentsystems sieht Dr. Heiner Flocke die größte Bedrohung für den produzierenden Mittelstand: „Patente geben ein scharfes Schwert in die Hände ihrer Inhaber, aber Taktierer und Trolle führen das Patentsystem ad absurdum“, warnt der Vorstandsvorsitzender des Patentvereins. „Viel zu oft werden erteilte Patente in einer patentgerichtlichen Nachprüfung wegen fehlender Neuheit oder mangelnder erfinderischer Höhe widerrufen und zuvor ergangene Verletzungsurteile als Fehlurteile deklassiert: für manchen Mittelständler zu spät, zudem zum Schaden statt zum Nutzen der Gesellschaft.“ Ein ausuferndes Patentsystem könne Innovationen also verhindern, statt sie im Sinne des Patentgesetzes zu fördern.

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Neue Anwälte – neue Kosten

Das neue EU-Patent vereinheitlicht Verletzungs- und Überprüfungsverfahren, macht das System aber noch komplizierter und erfordert spezialisierte Anwälte, verursacht also auch höhere Kosten. Patentklägern wird mit den Wahlmöglichkeiten zwischen EU-Patent, EP-Bündelpatent und nationalem Patent auch für identische Anmeldetexte neben dem bekannten Forum-Shopping damit auch ein so genanntes Law-Shopping eröffnet. „Das alles wird dem Mittelstand nicht gerecht, der durch den fortschreitenden Rückzug aus dem Patentsystem in ein gefährliches Abseits gerät“, führt Flocke weiter aus. „Mehr als fünfzig Prozent der Patentanmeldungen entfallen mit zunehmender Tendenz auf nur drei Prozent der Anmelder aus der Großindustrie.“ In dieser Abkehr vom Patentsystem seien für den Mittelstand Selbsthilfe und Schutzmaßnahmen notwendig, die darauf abzielen, das Risiko des Angreifers aus zweifelhaften Patenten deutlich zu erhöhen.

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Innovation braucht Handlungsfreiheit

Innovation brauche insbesondere im produzierenden Mittelstand mehr denn je Handlungsfreiheit und keine Behinderung durch zweifelhafte Patente, die zu einer Patentflut anschwellen oder Patentdickichte bilden. „Zweifelhaft, da die derzeitige Vernichtungsrate vor den Einspruchs- und Patentgerichten je nach Patentklassifizierung mit 30 bis 50 Prozent auffallend hoch ist“, so Flocke weiter. „Patentämter allein werden diese Defizite im System kaum beheben können oder wollen, aber warum Verletzungsrichter sich oft ohne technische Gutachter auf die vermeintliche Qualität und Validität der Patente verlassen, bleibt ein Rätsel.“ Eine Patentvernichtung nach gründlicher Überprüfung erfolgt oft erst nach mehreren Jahren und damit oft zu spät für den Beklagten im Verletzungsverfahren. Auch zweifelhafte Patente geben vom ersten Tag ihrer Erteilung dem Inhaber einen durchsetzbaren Ausschließlichkeitsanspruch, der tangierte Neuprodukte praktisch unverkäuflich macht und kaufmännische Existenzen vernichten kann. Andererseits besteht für den Patentinhaber und Angreifer im Verletzungsverfahren nur ein geringes und kalkulierbares Kostenrisiko. „Er übernimmt bei einer Niederlage vor deutschen Gerichten je nach Streitwert vergleichsweise moderate Gerichts- und Anwaltskosten“, sagt Flocke, „kann aber allein durch die Klageerhebung Innovationen Dritter beschädigen und vom Markt fernhalten.“

Unterlassung und Schadensersatz

Einer Bedrohung durch Patente kann kein Hersteller aus dem Weg gehen. Sobald er seine Produkte im Internet weltweit bewirbt, sind sie am Ort der Bewerbung aus dort geltenden Patenten angreifbar. Wer darauf setzt, die Angriffe vor Gericht abzuwehren oder das Patent zu vernichten, braucht einen langen Atem und kann in der Zwischenzeit sein Produkt praktisch nicht vermarkten. Jedenfalls droht bei gerichtlicher Niederlage Unterlassung und Vernichtung von Waren neben Schadensersatz und Herausgabe des Unternehmergewinns. Falls der Beklagte nach einem rechtskräftigen Verletzungsurteil das Patent vor dem Patentgericht vernichten kann, wird es umgekehrt schwer, Schadensersatz zu erreichen, etwa für einen kaum nachweisbaren entgangenen Gewinn.

Einer vorsorgenden Verteidigungsstrategie kommt daher insbesondere für den meist kapitalschwächeren Mittelstand existenzielle Bedeutung zu. Neben Vorschlägen zum Selbstschutz engagiert sich der Patentverein mit einem Gesetzesentwurf zum vorläufigen Rechtsschutz gegenüber der Patenterteilung und erarbeitet Strategien zur Erhöhung des Klagerisikos für den Patentinhaber. „Es muss weh tun, aus schwachen Patenten anzugreifen“, fordert Flocke. Zunehmender Missbrauch und weltweite Klagewellen brächten inzwischen das vom Ansatz her vernünftige Patentsystem in Misskredit. Bis zu einer tragbaren Reform könnte es aber manchen Mittelständler die Existenz kosten.

Oberste Prämisse einer Patentstrategie, auch des Mittelstands, ist der Schutz und damit die Patentierung eigener wirklicher Erfindungen. Gegenüber der Übermacht und Bedrohung aus Patenten Dritter stehen daneben aber folgende vorbeugende Maßnahmen:

  • Vereinigung: Bündelung von Interessen zur Vertretung in Organisationen. Klassische Industrieverbände sind oft geprägt von den großen Beitragszahlern sowie Konzernen und haben die kritischen Patentthemen bisher ausgeklammert.
  • Öffentlichkeit: Mittelstand und Verbraucher können gegenüber offensichtlichen oder auch nur empfundenen Missständen und Ungerechtigkeiten wirksam agieren. Image-Schäden müssen auch Großkonzerne ernst nehmen.
  • Nichtigkeitsklagen vor Patentgerichten: Dieser Weg ist durchaus mühsam, langwierig sowie teuer und richtet sich immer nur gegen einzelne Dornen in einem Dickicht. Auf der anderen Seite bestehen aber rein statistisch gute Chancen zur Vernichtung einzelner Patente.
  • Anwaltliche Recherchen gegenüber dem Stand der Technik: Eine Interessensgemeinschaft kann anwaltliche Aufgaben bündeln und finanzieren, den Stand der Technik gegenüber Streitpatenten der Patentinhaber zu ermitteln, um diese in ihrer Qualität und Bestandskräftigkeit zu beurteilen. Weiterhin sind vermeintlich verletzende Produkte abzugrenzen gegenüber den Streitpatenten.
  • Crowd Sourcing: Gegen störende Patente Dritte werden im Internet Dienste angeboten, weltweit nach Fundstellen zu suchen. Dabei wird der neuheitsschädliche „tödliche Treffer“ gegen das erteilte Patent finanziell belohnt als Anreiz, z.B. für Studierende, Patentprüfer, Technikexperten und Ingenieure. Zusätzlich zu den Recherchen in Patentschriften ermittelt Crowd Sourcing auch älteren Stand der Technik aus weltweiter Literatur, die der Patentprüfer bei seiner Erteilung wegen der Fülle der Schriften gar nicht erkennen konnte. Eine Interessensgemeinschaft kann gezielt ein ganzes Bündel von Patenten zum Crowd Sourcing ausschreiben und auf weltweiten Stand der Technik zum Erteilungszeitpunkt abklopfen.
  • Patent-Versicherung: Die Assekuranz hat den Bedarf erkannt und generiert Versicherungsmodelle. Zumindest für den Verteidigungsfall in Patentstreitigkeiten sollten bezahlbare Ansätze möglich sein. Ein Interessensverbund erhält hier ein deutliches Gewicht.
  • Risiko für den Angreifer: Das Risiko eines Angreifers auf Schadensersatz kann deutlich erhöht werden, wenn er auch den entgangenen Gewinn während der Verletzungsverfahren einbeziehen muss. Dazu wird die Bestätigung von Kunden benötigt, Produkte wegen des schwelenden Patentstreits nicht erworben bzw. alternativ investiert zu haben. Derartige Zusagen sind rechtlich abzusichern, die der Angreifer als Risiko berücksichtigen muss.

Ein weiteres Risiko für einen Kläger, der auch mit schwachen Patenten aus seinem Patent-Portfolio droht, besteht darin, aus einem Pool heraus gleichzeitig gegen viele dieser Patente Nichtigkeitsklagen einzureichen. Der Patentinhaber wäre gezwungen, Rückstellungen zu bilden und zu bilanzieren. Damit würde Druck der Finanzabteilung auf die innerbetrieblichen Patentabteilungen entstehen, insbesondere in börsennotierten Unternehmen oder solchen, die zum Verkauf stehen.

Interessensgemeinschaft für friedliche Lösungen

Eine friedliche Lösung ist immer vorteilhaft und oft wesentlich wirtschaftlicher als ein jahrelanger Rechtsstreit mit ungewissem Ausgang. Für eine ausgewogene Verhandlungsposition auf Augenhöhe erscheint zumindest eine Interessensgemeinschaft unerlässlich.

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