Podiumsdiskussion Automatisierung und Cloud

„Offen für Neues sein“

Die Stuttgarter Innovationstage des ISW der Uni Stuttgart sind aus dem Forschungsprojekt Picasso hervorgegangen, das die Umsetzbarkeit industrieller Steuerungsmechanismen aus der Cloud beleuchtete. Entsprechend drehte sich auch die Podiumsdiskussion auf der diesjährigen Veranstaltung des Kongresses um das Zusammentreffen von Fertigung und Internet. Moderiert von der Chefredaktion des SPS-MAGAZINs sprach die hochkarätige Runde über Chancen und Möglichkeiten in der Cloud sowie über die anstehenden Herausforderungen.

Der Abschluss des Forschungsprojektes Picasso ist mittlerweile gut ein Jahr her. Was hat sich seither getan in Sachen Steuerung von Industrieprozessen aus der Cloud?

Oliver Riedel: Picasso hat viel Basisarbeit dazu geleistet, was man steuerungstechnisch über eine Cloud lösen kann. In dieser Hinsicht war das Projekt also sehr erfolgreich und viele Unternehmen oder Organisationen sind seitdem auf das Thema aufgesprungen. Mittlerweile gibt es auch bereits verschiedene Instrumente und erste Anwendungen zeigen, dass es mehr und mehr in die Umsetzung geht. Im vergangenen Jahr ist also durchaus einiges passiert.

Wie ist denn die Situation von der Softwareseite aus zu bewerten, Herr Egermeier?

Hans Egermeier: Die Industrie greift zu kurz, wenn sie die Möglichkeiten der Cloud auf eine Online-Kopie der SPS reduziert. Stattdessen sollte man sich mehr aus der IT-Welt befruchten lassen. Erst wenn man auch bereit ist, Architekturkonzepte weiterzudenken, wird man den eigentlichen Schritt zu Mehrwert vollziehen können. Andernfalls wird man an dem Punkt steckenbleiben, dass man über die Cloud weder die Echtzeit in den Griff kriegt, noch die benötigte Verfügbarkeit sicherstellen kann.

Wie sehen Sie die aktuellen Entwicklungen in diesem Bereich, Herr Holm?

Thomas Holm: Aus den verfügbaren Cloud-Plattformen werden immer mehr Embedded-Systeme für den industriellen Einsatz abgeleitet und angeboten, z.B. für Azure oder AWS. Aber auch viele kleinere Lösungen umfassen einen Embedded-Bestandteil für die Steuerungsebene. Deswegen dürfen wir das Thema Cloud nicht nur von unten, also aus der Fertigung heraus nach oben denken. Es wird sehr wohl auch Wege von oben nach unten geben.

Sehr hoch in der Aufmerksamkeit lagen bisher die über die Cloud realisierbaren Zykluszeiten. Wie ist hier der aktuelle Stand?

Egermeier: Das Potential ist durchaus da und mit moderner Technologie wird man Latenzzeiten über 500ms in den meisten Fällen erreichen können. Aber es warten ja auch große Vorteile, wenn eine Applikation nicht permanent mit der Cloud verbunden ist. Wenn die Steuerungslogik online hinterlegt ist, aber auf der Maschine berechnet wird, kommt man um Echtzeitprobleme ganz einfach herum. Dann liegt der Nutzen vor allem in dauerhafter Verfügbarkeit, großer Anpassungsfähigkeit und schnell möglichen Updates. Der Programmierer kann das Potential der heute verfügbaren Technik also wunderbar ausschöpfen, zentral arbeiten und muss nicht zur jeweiligen Maschine hinfahren.

Joachim Rosskopf: Letztlich ist die Steuerungsanwendung selbst ja nur ein kleiner Teil dessen, was in der Cloud laufen kann. In Sachen Funktionalität und Nutzen wird sich deshalb in nächster Zeit noch einiges tun. Aber schon heute ist es wichtig zu wissen: Was geht bereits, was nicht? Und welche Parameter muss ich berücksichtigen? Denn Stellhebel für die Prozessoptimierung lassen sich oft schneller über die Cloud finden, als vor Ort in der Fabrik. Man sollte immer offen für Neues sein und sich nicht auf die Punkte versteifen, die sich heute noch nicht lösen lassen. Harte Echtzeit wird End-to-End selbst mit TSN nicht so bald funktionieren. Steuerungsaufgaben bleiben – sofern die Reaktionszeit eine Rolle spielt – also besser direkt auf der Maschine.

Wird es nach den Feldbus- und den Industrial-Ethernet-Kriegen jetzt zu einer Vielzahl parallel existierender aber inkompatibler Clouds kommen?

Rosskopf: Public Clouds werden in der Industrie immer prominenter. Bisher wollten noch viele Maschinenbauer oder Automatisierer eine eigene Cloud-Lösung platzieren. Aber die Brache versteht mehr und mehr, dass es parallel nicht allzu viele solche Plattformen geben kann. Wenn es um Konnektivität und Skalierbarkeit geht, dann hat die Konsolidierung bereits ein gutes Stück zu Gunsten der großen IT-Player stattgefunden. Letztendlich wird es sich von der Technologie her auf wenige technologische Basen konzentrieren – auf denen dann sehr viele verschiedene Anwendungen laufen.

Egermeier: Es wird sicherlich mehrere Anbieter nebeneinander geben, aber deren eingesetzte Technologie und die eingesetzten Formate werden konvergieren. Das kann man gut aus der heutigen Aufstellung der großen Cloud-Provider ableiten. Jeder hat zwar ein Extraschleifchen, aber sehr weit sind sie insgesamt nicht auseinander. Eine Situation, wie wir sie von den komplett proprietären Feldbussen kannten, wird es in der Cloud wohl nicht geben.

Rosskopf: Vermutlich nicht, aber natürlich wird jeder Cloudanbieter versuchen, den Vendor Lock-in so hoch wie möglich zu halten. Letztendlich entscheidet sich auch noch viel über die jeweilige Region, in der man tätig ist. Keiner der großen Provider ist in jedem Land stark. Will jemand Cloud-Produkte in China und in Europa anbieten, dann muss sich seine Anwendungsarchitektur unkompliziert in die unterschiedlichen Cloudlösungen integrieren lassen.

An eine solche Offenheit ist man auf der IT-Seite aber deutlich mehr gewöhnt, als in Maschinenbau auf Automatisierungstechnik.

Rosskopf: Grundsätzlich ist es nur eine Frage der Systemarchitektur. Die Maschinentechnik ist definitiv reifer als die Cloud. Deshalb weiß der Maschinenbauer in vielen Fällen noch gar nicht, wo ihn diese Reise hinführt – zudem fehlt es bisher oft an passenden Geschäftsmodellen. In der Folge muss man sich wohl oder übel auf Experimente in der Cloud einlassen und entsprechend flexibel bzw. ergebnisoffen sein.

Riedel: Die IT ist der Industrie beim Thema Offenheit ganz klar voraus. Sie hat schon lange gelernt, dass proprietäre Lösungen die Kassen zwar kurzfristig zum klingeln bringen, langfristig im Ökosystem aber mehr Schaden hinterlassen. Hier können sich der Maschinen- und Anlagenbau oder die Automobilbranche noch einiges abschauen.

Holm: Bezogen auf die industrielle Cloud geht es also darum, bestehende Ökosysteme für Alleinstellungsmerkmale und die eigene Wertschöpfung zu nutzen. Im AppStore von Apple gibt es zigtausend Programme und Tools, aber nur eine Hand voll kommen von Apple direkt. Mit diesem Ansatz werden auch für die Produktion neue Angebote entstehen, an die man jetzt noch gar nicht denkt.

Sind denn die großen Cloud-Provider überhaupt daran interessiert, ihre Angebote fit für die speziellen Anforderungen in Maschinenbau und Automatisierung zu machen?

Egermeier: Bliebe die Industriewelt so stark zersplittert, wäre sie für die Cloud-Provider nicht sonderlich interessant. Gemessen am zu leistenden Aufwand, ist das mögliche Geschäft dann zu klein. Aber die Standardisierung schreitet voran im Maschinenbau, und mit der Standardisierung steigt bei den Cloud-Anbietern auch das Interesse für die Industrie.

Die Zeit der proprietären Systeme ist also vorbei?

Egermeier: Dieser Ansatz hat lange gut funktioniert, aber die Zeiten ändern sich. Und mit OPC UA ist jetzt ein Eisbrecher gekommen. Gerade in Kombination mit TSN ist das Potenzial immens, um proprietäre Kommunikationssysteme endgültig abzulösen.

Das wäre nicht der erste Abgesang auf Feldbus und Co. Doch bisher galt an dieser Stelle immer: Totgesagte leben länger.

Egermeier: Natürlich geht hier noch einige Zeit ins Land. Wir kennen ja das Verhältnis von Greenfield und Brownfield, speziell in Deutschland, und bestehende Maschinen wird man sicherlich nicht in ihrer Grundsubstanz umrüsten nur um den Feldbus zu ersetzen. Zudem haben einige Protokolle eine enorme installierte Basis. Deren Nutzerorganisationen werden TSN also auch nicht pushen. Aber andere Anbieter können OPC UA und TSN als Chance für gleiche Funktionalität ohne Vendor Lock-in nutzen. Wichtig ist, dass die Masse ausreichend groß ist.

Holm: Letztendlich wird es dann um ganz andere Skalierungen gehen, als wir sie von proprietären Standards kennen. Denn mit einer Konzentration auf TSN könnten die Gerätehersteller Entwicklungs- und Produktionskosten deutlich runterschrauben.

Wir sprachen ja schon über die zwei Richtungen, in der die Cloud für Bewegung sorgt. Welchen Anforderungen begegnet denn die IT-Seite abseits der bereits genannten Echtzeitfähigkeit, wenn sie sich auf den Weg in Richtung Fertigung macht?

Holm: Sie müssen sich natürlich viel Branchen- und Domänenwissen aneignen. Deswegen gibt es aus meiner Sicht aktuell einen Wettlauf zwischen Industrieunternehmen, die versuchen Cloud zu lernen, und IT-Anbietern, die in entgegengesetzter Richtung unterwegs sind.

Riedel: Besser als ein Wettlauf wäre, wenn beide Seiten einfach zusammenarbeiten würden. Denn es ist nicht zu erwarten, dass ein Cloudanbieter in kürze steuerungstechnische Probleme lösen kann, und umgekehrt genauso.

Holm: Aber wie bringt man mittelständische Maschinenbauer dazu, ihr Wissen über die Domäne zu teilen?

Riedel: Das wird mit Sicherheit schwierig. Aber der ein oder andere Mittelständler denkt schon darüber nach, bestimmte Aufgaben abzugeben. Denn Maschinen werden sich in Zukunft immer stärker über die Software differenzieren, nicht über die Anbindung an eine Cloud.

Egermeier: Es kommen noch ganz andere Herausforderungen auf den Mittelstand zu. Bislang werden Softwarestände einfach von einer auf die nächste Maschinengeneration übertragen. Wenn es künftig aber um viele hunderttausend oder Millionen Zeilen an Code geht, dann braucht man zwingend teambasierte Prozesse. Mit einzeln arbeitenden Applikationsingenieuren, ohne eine fortlaufende Synchronisierung mit den Kollegen und ohne eine automatisierte Qualitätskontrolle, lässt sich die Softwareentwicklung dann nicht mehr beherrschen.

Rosskopf: Mir begegnen oft Programme, die mehr mit einer ‚Augen-zu-und-durch-Metalität‘ als nach Ingenieursstandards entwickelt wurden. Hier könnten sich die Softwareteams der Maschinenbauer also einiges von ihren Hardware-Counterparts abschauen.

Riedel: Dass sich bereits etwas in den Köpfen tut, zeigt unser neuer Studiengang für Produktions-IT am ISW der Uni Stuttgart. Als dieser aufgesetzt wurde, haben wir mit maximal 20 Studenten im ersten Jahrgang gerechnet – gekommen sind indes 68. Denen bringen wir jetzt bei, wie Softwareentwicklung funktioniert, wie man programmiert und wie man Softwareprojekte umsetzt.

Wird sich in diesem Zug auch die Nutzung der Programmiersprachen von eher handwerklichen SPS-Tools hin zu Hochsprachen verschieben?

Holm: Es ist eine sehr interessante Frage, mit welcher Sprache man Maschinen programmieren würde, wenn man wirklich nochmal bei Null anfangen könnte. Dann würde man heute doch mehr auf die IEC61131 zurückgreifen.

Egermeier: Für einen Techniker direkt an der Maschine sind Kontaktplan und Co. einfache und sinnvolle Tools. Wenn ein Programmierer aber tief in einen Technologie-Stack eingreifen muss, dann nutzt er dazu vielleicht besser C++. Geht es darum, Applikationen einfach aneinander zu hängen, dann bietet sich wiederum Python an. In der IT-Welt ist es längst normal, die jeweiligen Programmiersprachen gemäß ihrer Vorteile einzusetzen. Mit diesem Ansatz kann auch die Automatisierungstechnik flexibler und effizienter werden.

Riedel: Mehr noch: Der mittelständische Maschinenbau muss die Applikation und den Prozess beim Kunden stärker in den Vordergrund rücken. Denn aus der IT weiß man: Je besser man modelliert, desto geringer ist hinterher der Implementierungsaufwand.

Viele Anwender, die normalerweise in ST gemäß IEC61131 programmieren, benötigen für komplexere Anwendungen aber eigentlich auch Hochsprachenfunktionalität. Muss man die beiden Welten nicht viel flexibler verheiraten?

Riedel: Aus Forschungssicht sind wir z.B. dabei, das Forschungsfeld ‚Software Defined Manufacturing‘ aufzusetzen, in dem es genau darum geht, die beiden Welten zusammen zu schieben und der Software einen höheren Stellenwert zu geben. Das ist jedoch ein richtig dickes Brett und wir würden es sehr begrüßen, dieses von Anfang an mit industrieller Beteiligung zu bohren.

Zurück zur Datenwolke: Wie lässt sich das komplette Potenzial der Cloud für die Industrie erschließen?

Egermeier: Wir brauchen eine neue Denkweise im Maschinenbau. Denn dort wird der Wert einer Anlagen nach wie vor sehr hardwarelastig beurteilt. Wenn es aber um den Mehrwert durch Software und die Cloud geht, dann muss man die Applikationen der Kunden und deren Nutzung gut kennen und verstehen. Das ist deutlich komplizierter. Mit Blick voraus gilt es jetzt, die Software-Funktionalität von Maschinen in kleinen Schritten so zu erhöhen, wie die Kunden deren Sinn bestätigen. Sie benötigen genau auf den Anwendungsfall zugeschnittene Lösungen.

Rosskopf: Die Produktion ist meist der Unternehmensbereich, der bereits am meisten ausgereizt ist. Die großen Reserven im produzierenden Mittelstand sind hingegen meist in Bereichen wie Vertrieb oder Support zu heben. Und auch hier können Produktionsdaten ein sehr geeigneter Input für Vertrieb, Support und Logistik sein. Ein Punkt, den man bei alldem nicht vergessen darf: Daten sind nicht gleich Informationen. Einfach alle verfügbaren Daten in der Cloud abladen erschwert oft die Lösung einer künftigen Fragestellung. Deswegen sollte man erstmal genau überlegen: Was will ich tun? Welche Fragen will ich beantworten? Und was brauche ich dafür für Daten?

Riedel: Ganz so tragisch sehe ich das nicht. In Zukunft werden immer mehr neue Mitarbeiter im Maschinenbau einen Informatikhintergrund mitbringen. Für die bieten bereits gesammelte Daten ein spannendes Experimentierfeld. Ich kann mich an verschiedene Situationen aus meiner Tätigkeit in der Industrie erinnern, in denen allein aus der Basis vorhandener Daten spannende Lösungen und große Einsparungen hervor gegangen sind.

Rosskopf: Für stimmige Wartungsprognosen und Co. sind oftmals schon Automatsierung und Sensorik gut in der Lage, ohne dass es mächtige Big-Data-Algorhitmen erfordert. Die Maschinendaten geben hingegen sehr spannende Informationen über den tatsächlichen Einsatz einer Maschine und das Nutzungsverhalten der Anwender preis.

Riedel: Big Data und hochbezahlte Analysten sind eh selten die seligmachende Lösung. Denn irgendjemand muss ja auch zuordnen können, was die Muster bedeuten, die in den Daten entdeckt werden. Und das sind in der Erfahrung bisher die Maschinentechniker und Instandhalter. Mit Blick in die Zukunft kann man also sagen: Wir brauchen eine neue Generation von Datenanalysten mit Domänenwissen.

Meine Herren, vielen Dank für das Gespräch. (mby)

Prof. Oliver Riedel

Institutsleiter des ISW Uni Stuttgart

Dr. Thomas Holm

Head of Innovation & Technology bei Wago

Dr. Hans Egermeier

Berater für Software und Automatisierungstechnik

Joachim Rosskopf

Data Engineer bei Zoi

ISW Institut für Steuerungstechnik der

Das könnte Sie auch Interessieren

Weitere Beiträge

Bild: Wölfel Engineering
Bild: Wölfel Engineering
Mit Beckhoff-IPC und integrierter Messtechnik zur individuellen Zustandsüberwachung

Mit Beckhoff-IPC und integrierter Messtechnik zur individuellen Zustandsüberwachung

Deutlich erhöhte Schwingungen an Maschinen können in vielerlei Hinsicht negative Folgen haben, von einer reduzierten Anlagenleistung bis hin zu Schäden an Maschine und Fundament. Durch Condition Monitoring können solche Schwingungsprobleme frühzeitig erkannt sowie Wartungsintervalle angepasst werden. Mit integrierter Messtechnik hat Wölfel Engineering auf diese Weise das Retrofit einer Schmiedepresse mit 2.000t Presskraft umgesetzt.

mehr lesen
Bild: Siemens AG
Bild: Siemens AG
Vision-Integration per App

Vision-Integration per App

Qualitätskontrolle ist in der modernen Industrie von entscheidender Bedeutung. Mit Machine Vision wird sie weniger fehleranfällig, zeitaufwändig und kostspielig. Durch die Aufnahme von zwei Anbietern der industriellen Bildverarbeitung in das Siemens-Industrial-Edge-Ökosystem können neue skalierbare Bildverarbeitungslösungen effizient und nahtlos in die Produktionsautomatisierung integriert werden.

mehr lesen