Simulationsmethoden und -werkzeuge in unterschiedlichen Lebenszyklusphasen

Die virtuelle Produktion

Vor dem Hintergrund sich immer schneller ändernder Markt- und Kundenanforderungen setzen Hersteller und Betreiber von Produktionsanlagen zunehmend auf Simulationsmodelle. Denn mithilfe abgestimmter Methoden und Werkzeuge lassen sich die Planung, Auslegung und Inbetriebnahme bereits virtuell durchführen. Auch im Produktionsbetrieb steigt die Notwendigkeit einer Kopplung des Digitalen Zwillings mit den realen Prozessen und abgestimmten Services.

Der Lebenszyklus von Produktionsanlagen gliedert sich in die Phasen der Entwicklung, der Planung, der Inbetriebnahme und des Fertigungsbetriebs. Ziel der digitalen Fabrik ist es, den oftmals hochkomplexen Anlagen über all diese Phasen hinweg ein Simulationsmodell, den so genannten digitalen Zwilling, zur Seite zu stellen.

Systemsimulation einer Produktionsanlage

Durch Kopplung hochspezialisierter Modelle aus unterschiedlichen Simulationsdisziplinen bildet der Zwilling das Anlagenverhalten gesamtheitlich ab und stellt im Rahmen der Simulation alle relevanten Systeminformationen dauerhaft und in der jeweils benötigten Granularität zur Verfügung. Das Simulationsmodell muss dabei alle Systemebenen (z.B. Komponenten, Geräte, Gesamtanlagen oder Materialfluss) inklusive komplexer Wechselwirkungen vollständig berücksichtigen. So kann sich der digitale Zwilling für alle beteiligten Disziplinen zur Basis einer effiziente Realisierung von neuen Lösungen, Dienstleistungen oder Geschäftsmodellen entwickeln.

Anwendung im Lebenszyklus einer Produktionsanlage

Ziel des digitalen Zwillings ist die simulationsgestützte, phasenübergreifende Planung von Produktionsanlagen und -prozessen im Bereich von Konzeption, Entwicklung, Systemplanung, Test, Schulung, Service und Betrieb auf Basis abgestimmter Methoden und Werkzeuge. Im Kontext der digitalen Fabrik sind in den letzten Jahren viele digitale Methoden mit passenden Softwarewerkzeugen entstanden, die dem Maschinen- und Anlagenbau für die eigenen Lebenszyklusphasen ihrer Produktionsanlagen zur Verfügung stehen. Weiterführende vielversprechende Lösungen sind Gegenstand aktueller wissenschaftlicher Untersuchungen.

Produktionsplanung

Zu Beginn des Engineerings werden Simulationen genutzt, um Layout und logistische Prozesse auf Basis von Produktionsmodellen zu entwickeln und zu prüfen. Der Digitale Zwilling, ein in dieser Phase stark abstrahiertes Modell, erlaubt erste Aussagen über produktionsrelevante Kenngrößen. Neben der Layout- und Variantenabsicherung unterstützt er bei vielen Aufgaben des frühen Engineerings. Insgesamt sollen dadurch Angebotskalkulation, Betriebs-, Logistik- und Lagerkosten genauer und sicherer werden. Hauptziel aktueller Entwicklungen ist die automatische Überführung der zunächst stark abstrahierten Modelle in digitale Zwillinge, die alle Systemebenen detailliert abbilden. Basis hierfür sind skalierbare und wiederverwendbare Verhaltensmodelle der realen Komponenten, die eine genaue Auslegung und Validierung des Anlagen- und Automatisierungskonzepts (z.B. Sensoren, Ventile oder Antriebe) sowie zugehöriger Abläufe ermöglichen. In dieser Phase werden die Abläufe meist als Model-in-the-Loop-Simulation realisiert und in einer Modellsprache (z.B. Sequenzeditor oder Zustandsgraph) definiert, visualisiert und überprüft. Durch automatische Codegenerierung für die jeweilige Steuerungsplattform erfolgt anschließend die Lösungskonkretisierung für herstellerspezifische Automatisierungskomponenten.

Produktionsanlauf

Im Maschinen- und Anlagenbau wird der digitale Zwilling zur virtuellen Inbetriebnahme genutzt. Die industrielle Steuerungshardware kann inklusive Konfiguration und Steuerungsprogrammen an der virtuellen Produktionsanlage in Betrieb genommen werden. Als Hardware-in-the-Loop-Simulation wird das Modell zum Ersatz für reale Systeme – inklusive Sensoren, Aktoren, Antriebstechnik und Sicherheitsfunktionen. So können Systemintegratoren Modelle einsetzen, um schon vor dem Bau realer Anlagen die benötigte (Steuerungs-) Software zu entwickeln, zu testen und anzupassen. Auch uneingeschränkte virtuelle Factory Acceptance Tests werden dadurch möglich. Die digitale Wertschöpfungskette wird geschlossen, indem vermehrt Komponentenhersteller selbst validierte Simulationsmodelle ihrer Geräte zur Verfügung stellen. Auf dem Weg zur realen Anlagentechnik werden bei der hybriden Inbetriebnahme schrittweise virtuelle durch reale Komponenten ersetzt. Durch die virtuelle Inbetriebnahme sollen die hohen Anforderungen an Produktivität, Qualität und Wirtschaftlichkeit industrieller Produktionssysteme trotz steigender Komplexität erfüllbar bleiben. Im Rahmen der Zertifizierung neuer Maschinen und bei der Anlagenabnahme beim Kunden ist ein umfangreicher Test der Steuerungssoftware notwendig, der heute manuell über das Abarbeiten langer Checklisten spezifisch für die jeweiligen Steuerungen erfolgt. Um den daraus resultierenden Aufwand zu reduzieren und die Testqualität zu erhöhen, werden digitale Methoden zur Testautomatisierung entwickelt. Damit können künftig durch einen Testautomaten herstellerunabhängige Steuerungstests am Simulationsmodell vorgenommen werden. Hinsichtlich der Interaktionen zwischen Prozess, Maschine und Gesamtanlage werden komplexe Produktionsanlagen künftig genauer abgebildet. Dazu werden schon vorhandene, hochspezialisierte und technologiespezifische Modelle z.B. für Hydraulik, Materialeigenschaften oder weitere physikalische Effekte im Rahmen einer Modellintegration eingebunden. Durch standardisierte Integrationsschnittstellen, wie das Functional Mock-up Interface (FMI), werden bereits erstellte Modelle in den Zwilling überführt. So können Produktionsabläufe und -systeme unter Berücksichtigung der hohen Anforderungen an die Aussagekraft eingesetzter Modelle ganzheitlich ausgelegt werden. Bei immer weiter steigender Genauigkeit der eingesetzten Modelle nimmt die für die Simulation benötigte Rechenkapazität zwangsläufig zu – eine große Herausforderung für die Echtzeitsimulation. Durch Modellpartitionierung und Parallelberechnung auf Multi-Core- und Graifkkarten-Prozessoren kann die abbildbare Modelltiefe durch Ausnutzung verfügbarer Rechenkapazität deutlich erhöht werden. Unter dem Begriff der Echtzeit-Co-Simulation werden diese Ansätze derzeit wissenschaftlich vorangetrieben.

Produktionsbetrieb und Service

Treibende Kraft für den Einsatz digitaler Zwillinge sind in dieser Phase die wachsenden Produktvarianten sowie die Komplexität der Produktionssysteme. Zudem führt der Produktionsaufbau aus autonomen, intelligenten Produktionseinheiten zu neuen Lösungen bzw. Anwendungen, die erst durch das digitale Modell ermöglicht werden. Durch die Wiederverwendung der bereits im Engineeringprozess erstellten Simulationsmodelle entfällt der zusätzliche Aufwand für die Erstellung neuer Modelle. Ein Beispiel für die phasenübergreifende, aber vor allem im Produktionsbetrieb angewandten Nutzung digitaler Zwillinge sind Schulungs- und Qualifizierungsmaßnahmen: Auch wenn die reale Anlage noch nicht, nicht mehr oder nur bedingt zur Verfügung steht, können Bediener jederzeit notwendige Reaktionen im Normalbetrieb und bei Störfällen ohne Gefahr für Mensch oder Anlage trainieren. Das Simulationsmodell steht auch zur Anlagenanpassung, Wartungsplanung oder als Basis für Umbauten zur Verfügung. Bei Austausch realer Anlagenkomponenten wird das Modell durch Austausch der entsprechenden virtuellen Komponenten einfach angepasst. Die Integration des digitalen Zwillings auf eine Edge-Cloud-Plattform beim Anlagenbetreiber ermöglicht zukünftig schnelle Datenverarbeitung, kurze Latenzzeiten und hohe Datensicherheit. Über Smart-Service-Plattformen werden Simulationsmodelle dem gesamten Wertschöpfungsnetzwerk (Komponentenhersteller und Anlagenbauer oder Inbetriebnehmer) standortunabhängig zugänglich gemacht, was neue Geschäftsmodelle ermöglicht: lokale Smart Services in der Edge Cloud genauso wie standortübergreifende Internetdienste (z.B. virtuelle Fehlerfindung, Smart Maintenance oder Big-Data-Analysen).

Virtuelle Produktion – ganz real

Anlässlich der Stuttgarter Innovationstage (12./13. Februar 2019) wird basierend auf best-practice-Anwendungen zum Thema „Virtuelle Produktion“ berichtet. Neben dem Einsatz bestehender Methoden auf Basis des digitalen Zwillings zeigen die Vorträge neue Technologien im zukünftigen Einsatz im Maschinen- und Anlagenbau auf. Ihre Teilnahme zugesagt haben u.a. Referenten der BMW AG, HOMAG Group, HEITEC AG sowie der ISG Industrielle Steuerungstechnik GmbH.

ISW Institut für Steuerungstechnik der

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