Bedienung und Automatisierung von Mehrproduktanlagen

Faktor Mensch als Risiko

Das Fahren von Mehrproduktanlagen weist ein breites Gefahrenspektrum auf. Hohe Anforderungen werden dabei an die Bediener und das Automatisierungskonzept gestellt. Wie die Produktion dennoch sicher bleibt, zeigt TÜV Süd Process Safety am Beispiel der Herstellung von organischen Peroxiden.
Trotz des hohen Automatisierungsgrades ist der Einfluss eines Bedieners auf Kontroll- und Sicherheitseinrichtungen nicht zu unterschätzen.
Trotz des hohen Automatisierungsgrades ist der Einfluss eines Bedieners auf Kontroll- und Sicherheitseinrichtungen nicht zu unterschätzen.

Mehrproduktanlagen steigern die Flexibilität und Effektivität verfahrenstechnischer Prozesse. Doch für Mensch und Maschine sind die Herausforderungen groß: Häufige Rezeptwechsel, stark variierende Prozessparameter und sich ändernde Steuerungsaufgaben müssen zu jeder Zeit sicher beherrscht werden. Trotz des hohen Automatisierungsgrades ist der Einfluss des Bedieners auf Kontroll- und Sicherheitseinrichtungen nicht zu unterschätzen. Hinzu kommt: Es wird auf Anlagen produziert, die nicht immer auf jeden einzelnen Produktionsschritt so ausgelegt sein können, wie dies bei Monoanlagen möglich ist.

Mehrproduktanlage im Werk Pullach. Auf dem Reaktor der Conti-Anlage ist das Rührgerät (RM 16) angebracht. Rechts im Bild: eine Destillationsanlage (K 11), in der ein Zwischenprodukt thermisch aufgetrennt wird.
Mehrproduktanlage im Werk Pullach. Auf dem Reaktor der Conti-Anlage ist das Rührgerät (RM 16) angebracht. Rechts im Bild: eine Destillationsanlage (K 11), in der ein Zwischenprodukt thermisch aufgetrennt wird.

Klare Aufgabenverteilung

Von großer Bedeutung ist die sinnvolle Verteilung von Aufgaben zwischen Bedienern und der automatisierten Anlage. Findet ein Rezeptwechsel statt, sind die Prozessparameter und der Grad der Automatisierung anzupassen. Aber auch die Bediener müssen sich auf die neue Produktionsaufgabe einstellen. Die Umstellung kann viele Bereiche betreffen: neue Kennwerte und konfigurierte Alarme, aber auch Anweisungen für den Umgang mit reaktiven Stoffen. Ein wesentlicher Aspekt dabei ist das Vertrauen des Bedieners in die Automatisierung: Ist es zu gering, greift er zu häufig unnötig ein. Im umgekehrten Fall schätzt der Bediener die wahre Zuverlässigkeit der Automatisierung zu hoch ein. Dann läuft er Gefahr, seine Kontrollaufgaben nicht ausreichend wahrzunehmen.

Alarme priorisieren

TÜV Süd empfiehlt daher, die Systemeigenschaften mit Blick auf alle sicherheitsrelevanten Faktoren (Technik, Organisation, Mensch) zu identifizieren. Als Basis dienen systematische Sicherheitsbetrachtungen gemäß den Regelwerksanforderungen und Aufgabenanalysen. Das Anlagen- und Prozessdesign ist so auszurichten, dass menschliche Fehler bei der Umstellung vermieden werden. Ein Rezeptwechsel sollte dem Bediener nicht zu viel und nicht zu wenig abverlangen. Ein wichtiger Aspekt ist aber auch das Alarmmanagement. Denn in vielen Produktionsbetrieben sind mehrere hundert Alarme pro Tag keine Seltenheit. Aber nicht jeder Alarm ist kritisch und muss Konsequenzen für den Bediener haben. Entscheidend ist, deren Priorität richtig zu bewerten und dann geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Die Lösung: Kritische Alarme müssen auf den ersten Blick leicht erkennbar sein.

Organische Peroxide sicher produzieren

Ein Fallbeispiel: United Initiators (vormals: Degussa Initiators) produziert am Standort Pullach bei München organische Peroxide. Die großtechnische Herstellung dieser Verbindungen erfordert einen sorgfältigen Umgang und besondere Sicherheitstechnik. Denn organische Peroxide sind vergleichsweise instabile, temperaturempfindliche und brandfördernde Verbindungen. Manche davon sind zudem auch explosionsgefährlich. Bei der Einführung eines neuen Automatisierungskonzept, sollte dies die geforderte Flexibilität für die Produktion mit Batchprozessen in Mehrproduktanlagen ermöglichen. Zwei Produktionsgebäude mit acht Produktionszellen inklusive der verbundenen Messwarten und Arbeitsplätze wurden zusammengelegt. Zudem war die Synchronisierung eines Prozessleitsystems mit einem Sicherheitssystem geplant. Implementiert wurde ein Scada-System, das dem sicherheitsgerichteten Leitsystem übergeordnet ist. Die Verbindung des Scada-Systems zur Sicherheitssteuerung erfolgt über einen OPC-Server. Alle Produktionsprogramme und auch die Rezepte sind permanent in der SPS geladen. Ebenfalls automatisiert wurde damit die Programm- und Rezeptauswahl. TÜV Süd unterstützte den Betreiber beim Implementieren eines sogenannten Handshake-Verfahrens, das Scada mit dem Sicherheitssystem verbindet und auf dem Vier-Augen-Prinzip basiert. Im Bereich der automatisierten Rohstoffzufuhr erfolgt die Datenkommunikation der Produktionseinheiten über Safeethernet. Das Konzept ermöglicht, den Automatisierungsgrad der Mehrproduktanlage deutlich zu steigern und flexibler zu produzieren, ohne dabei die Schnittstelle Mensch-Prozess zu vernachlässigen. Der erreichte Safety Integrity Level (SIL) 3 entspricht dabei dem in DIN EN61508-1 geforderten Sicherheitsniveau.

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TÜV SÜD Process Safety
http://www.tuev-sued.ch/process-safety

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