Steuerungsentwicklung:

Programmierst Du noch oder teachst du schon?

Der heute noch übliche sequentielle Workflow in der Maschinen- und Anlagenentwicklung von der Konstruktion über die E-Technik und Instrumentierung zur Steuerungsprogrammierung kann durch virtuelles Engineering effektiv parallelisiert werden. Neben einer Verkürzung der Entwicklungszeit können die Produkteigenschaften schon vor der Fertigung weitgehend abgesichert werden und die Inbetriebnahme kann zum großen Teil bereits in der virtuellen Welt erfolgen.

Der erste Teil des Beitrags beschreibt ein am Fraunhofer IFF entwickeltes Werkzeug zum frühzeitigen Entwurf und Test von Maschinensteuerungen, wobei es sich um SPS-, NC- oder PC-basierte Steuerungen handeln kann. Während hierbei die Programmerstellung noch mit den üblichen Entwicklungswerkzeugen erfolgt, beschreibt der zweite Teil eine Methode, Steuerungsprogramme weitgehend automatisiert durch Teachen, d.h. durch Vorführen am virtuellen Modell zu erzeugen. – Die beschriebenen Methoden wurden am IFF bereits in mehreren industriellen Projekten zur Entwicklung von Sondermaschinen erfolgreich angewendet.

Programmtest und Inbetriebnahme am virtuellen Modell

Bei der Entwicklung von Maschinen und Anlagen steht der Programmierer in aller Regel am Schluss der Kette: Auch wenn vielleicht Programmbausteine aus früheren Projekten verwendet werden, können doch deren Zusammenstellung und Modifizierung sowie die Programmierung weiterer Moduln und vor allem Inbetriebnahme und Test erst dann erfolgen, wenn die reale Maschine gefertigt und zusammengebaut ist. Das hat zur Folge, dass das Programm unter enormen Zeitdruck entsteht (größte Fehlerquelle!) notwendige Tests, insbesondere Reaktionen auf Fehler- und Ausnahmezustände nur sehr unvollständig erfolgen; Programmfehler werden erst behoben, wenn sie im Betrieb auftreten (\’Produkt reift beim Kunden\‘) erkannte Unzulänglichkeiten der Konstruktion vom Programmierer \’irgendwie\‘ umgangen werden müssen (sog. workarounds) falls das nicht möglich ist, zumindest teilweise neu konstruiert werden muss; spätestens jetzt ist das Projekt finanziell nicht mehr zu retten. Dabei steht die Steuerungshardware, z.B. eine SPS, bereits oft zu Projektbeginn schon zur Verfügung – entweder als vorhandene Entwicklungsumgebung oder sie kann mit kurzen Lieferzeiten beschafft werden. Wenn man frühzeitig ein virtuelles Modell der Maschine hat – zunächst als 3D-CAD-Modell, welches noch lange nicht auskonstruiert sein muss – kann man durch eine Kopplung mit der realen Steuerung (\“Hardware-in-the-loop\“) bereits Code entwickeln und die ersten Abläufe testen. Mit zunehmender Reife der Konstruktion wird dieser Prozess inkrementell durchlaufen und das Programm ebenfalls ausgereift.

Vincent: neuer Workflow, schnellere Entwicklung

Diesen Weg geht das am IFF entwickelte Werkzeug Vincent (\’virtual numeric control environment\‘). Es greift über das STEP-Format auf die Konstruktionsdaten zu und ist dadurch unabhängig vom eingesetzten CAD-System. Bild 1 zeigt schematisch den Workflow. Im ersten Schritt wird die Konstruktion \’kinematisiert\‘, das heißt, es wird definiert, welche Elemente zu einer Baugruppe zusammengehören und wo sich Achsen befinden, welche diese miteinander verbinden. Würde jeder Konstrukteur seinen Elementebaum streng hierarchisch nach diesem Prinzip anlegen, könnte man diesen Schritt sogar vollständig automatisieren. Da das in der Praxis leider nicht der Fall ist, unterstützt ein vollgrafischer Editor diesen Schritt (Bild 2). Im linken oberen Fenster sind alle in Step importierten Elemente zu sehen; diese werden per drag and drop zu einer Kinematikstruktur angeordnet; diese kann seriell, verzweigt oder auch mit geschlossenen Schleifen aufgebaut sein. Baugruppen, die im CAD-Teilebaum schon in der richtigen Struktur angeordnet sind, können als Ganzes übernommen werden, was den Aufwand für die Erstellung der Kinematikstruktur gering hält. Die Kinematikstruktur besteht aus nur 2 Grundelementen: a) Körpern (alles, was sich zusammen bewegt) und Achsen, welche die Körper verbinden (rotatorisch oder translatorisch). Die zugeordneten Elemente erscheinen sofort im 3D-Viewer (rechts) – die Konstruktion kann wie gewohnt von allen Seiten angesehen werden. Wenn alle Step-Elemente zugeordnet sind, ist das linke obere Fenster leer und die Kinematisierung abgeschlossen. Im zweiten Schritt kann die kinematisierte Struktur manuell bewegt werden und es werden die Achsen parametriert. Dazu wird für jede Achse ein Schieberegler erzeugt (Bild 3), bei deren Betätigung sich die damit verbundenen Körper bewegen und auch in der Grafik hervorgehoben werden. So lässt sich die erzeugte Struktur sehr einfach auf Richtigkeit und Vollständigkeit kontrollieren; Korrekturen sind natürlich jederzeit möglich. Jede Achse wird ferner parametriert, das heißt, der Typ festgelegt – rotatorisch oder translatorisch sowie positionierbar oder nicht (z.B. für Pneumatikzylinder mit zwei Endlagen). Für die positionierbaren Antriebe können neben Anfahr- und Bremsbeschleunigungen sowie Maximalgeschwindigkeit auch die Lage des Messsystems sowie maximal und minimal zulässige Positionswerte eingegeben werden. Fehlen letztere, ist die Bewegung bis zum mechanischen Anschlag möglich. Für jede Achse werden automatisch jeweils zwei binäre virtuelle Sensoren generiert, welche Endwerte signalisieren. Darüber hinaus können beliebig viele weitere binäre Sensoren hinzugefügt werden, auch sind bereits einige analoge Sensoren (z.B. Abstandssensoren) implementiert. Damit ist das virtuelle Maschinenmodell fertig. Die Kopplung des virtuellen Modells zu einer realen Steuerung erfolgt nun über ein Bussystem. Derzeit implementiert sind Profibus, Profinet, Ethernet und Ethercat (Profisafe ist in Vorbereitung). Prinzipiell kann so jede beliebige Steuerung mit Vincent kommunizieren. Da aber kein einheitlicher Standard für den Datenzugriff existiert, wird für jeden Steuerungstyp ein Softwareadapter benötigt. Bisher stehen diese für Simatic S7, SiMotion, NC 840D, Beckhoff TwinCat sowie B&R zur Verfügung; weitere können bei Bedarf hinzukommen. Für die logische Verbindung zwischen realen I/O\’s und Positioniermoduln auf der einen Seite sowie dem virtuellen Modell auf der anderen Seite erzeugt Vincent selbständig einen Zuordnungsvorschlag, der bei Bedarf editiert werden kann. Das Hardware-in-the-loop System ist damit fertig. Vincent arbeitet darüber hinaus inkrementell: wenn ein neuer Konstruktionsstand geladen wird, werden Änderungen und Ergänzungen gegenüber dem letzten Stand automatisch erkannt; alle bekannten Elemente werden \’wie gehabt\‘ angeordnet und nur für neue oder geänderte Komponenten ist der oben genannte Workflow erneut zu durchlaufen. Das Steuerungsprogramm wird nun wie gewohnt, z.B. in der S7-Programmierumgebung, entwickelt. Durch die online-Kopplung von Vincent mit der SPS (bis zu 1ms Abtastzeit) ist es möglich, die Ausführung einzelner Programmschritte und -moduln bis hin zum kompletten Ablauf sofort zu testen. Das virtuelle Maschinenmodell vollführt im 3D-Viewer exakt die gleichen Bewegungsabläufe wie später die reale Maschine. Darüber hinaus läuft eine leistungsfähige Echtzeit-Kollisionskontrolle im Hintergrund. Im Gegensatz zu anderen Verfahren werden hierbei keine Hüllkörper, sondern die exakten Geometrien verwendet. Bei erkannten Kollisionen hält das Programm an und die kollidierten Teile erscheinen im Viewer rot (Bild 4). Der Konstrukteur erkennt somit Fehler und Schwachstellen seiner Entwicklung, bevor die Fertigung beginnt; der Programmierer vermeidet umständliche workarounds. Weiterhin können durch gezielte Beeinflussung der Sensorausgänge am virtuellen Modell Störungen simuliert und die Fehlerreaktion des Programms getestet werden. Eine typische Fehlerquelle sind z.B. verrutschte oder sporadisch versagende Endlagenschalter eines Pneumatikzylinders.

Vorteile des Modells

Ein wichtiger Bestandteil der Programmentwicklung ist die Bedienoberfläche (HMI). In der Regel gibt der Kunde keine oder nur sehr vage Vorgaben über die konkrete Gestaltung des HMI und der verschiedenen Bedienebenen; ist er mit dem abgelieferten Entwurf dann nicht zufrieden, muss nachgearbeitet werden. Am virtuellen Modell kann das HMI gemeinsam mit den späteren Nutzern (Bediener, Servicepersonal, Einrichter) erarbeitet werden. Die Umsetzung erfolgt dann wie üblich, z.B. mit WinCC. Grafische Maschinendarstellungen, die direkt aus Vincent übernommen werden können, erleichtern die Entwicklung eines bedienerfreundlichen HMI. Auch in der Aufbau- und Inbetriebnahmephase leistet das Modell sehr gute Dienste. Relativ häufig sind Verdrahtungs- bzw. Verschlauchungsfehler auf dem Weg vom Schaltschrank oder einer Ventilinsel zum Aktor bzw. Sensor. Durch Vergleich der Anzeigen auf den HMI\’s von virtueller und realer Maschine lässt sich nicht nur sofort sehen, welches Kabel falsch aufgelegt ist, sondern auch, wohin das Kabel fälschlicherweise gelegt wurde! Das mühsame Nachverfolgen eines Kabels oder Pneumatikschlauchs in einer Trasse oder einem Bündel entfällt somit. Durch die Kopplung von virtuellem und realem Modell kann nach Programmierung des HMI auch die Nutzerschulung beginnen. Die Schulungs- und Einweisungsphase nach Lieferung der realen Maschine lässt sich damit drastisch verkürzen, die Maschine kann deutlich früher produktiv arbeiten. Zusammenfassend bringt die Kopplung von virtueller Maschine und realer Steuerung durch Vincent Vorteile über den gesamten Entwicklungsprozess von der Idee bis zur Übergabe der Maschine. Bild 5 zeigt einen Ausschnitt aus dem virtuellen Modell eines komplexen Fertigungssystems mit ca. 150 elektrischen und pneumatischen Aktoren sowie mehr als 800 Sensoren, welches vom IFF im Kundenauftrag von der Idee bis zur Auslieferung entwickelt wurde. Schon am virtuellen Modell konnten zahlreiche Optimierungen im Zusammenspiel von Mechanik, Elektrik und Steuerung vorgenommen werden. Das Steuerungsprogramm (hier: S7) war zum größten Teil erstellt und getestet, bevor die ersten Teile aus der Fertigung kamen.

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Fraunhofer-Institut IFF
http://www.iff.fhg.de

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