Hightech trifft auf User Experience

Wie Technologien aus der Consumer-Elektronik das Bedienen und Beobachten in der Industrie revolutionieren können
Industrie 4.0 wird von einem Umdenken begleitet. Vordergründig besteht dieses Umdenken unter anderem darin, dass Anbieter von Automatisierungstechnik zukünftig immer mehr auf Software-Aspekte und nicht mehr nur auf Hardware-Aspekte eingehen müssen. Intelligente, systemübergreifende Steuerungen und ergonomische, touchbasierte Human Machine Interfaces (HMIs) sind typische Beispiele.

Bohrt man tiefer, wird jedoch schnell klar, dass die strikte Trennung zwischen Hardware und Software im Industrie 4.0 Kontext bei der Schaffung innovativer und ergonomischer Konzepte nicht förderlich ist. Hard- und Software müssen als eine neue Einheit verstanden werden, die mehr ist als die Summe ihrer beiden Einzelteile. Vielmehr geht es um die Verschmelzung von Hightech – im weitesten Sinne – um daraus wettbewerbsfähige Lösungen zu schaffen, die den Bediener optimal bei der Erreichung seiner Ziele unterstützen. Vor diesem Hintergrund beleuchtet der Artikel, welche technologische Orientierung in welchen Kontexten sinnvoll ist, um Trends wie \’Bring Your Own Device\‘ (BYOD), \’Internet of Things\‘ ( IoT) oder der \’digitalen Fabrik\‘ folgen zu können und welche Chancen diese neuen technischen Möglichkeiten für die Konzeption ergonomischer und innovativer Bedienkonzepte bieten. Anhand von vier Szenarien soll dargestellt werden, warum unterschiedliche Nutzungskontexte und Nutzerbedürfnisse auch den Einsatz unterschiedlicher Technologien erfordern. So soll exemplarisch ein Verständnis dafür vermittelt werden, dass gute User Experience nicht zwangsläufig durch den Einsatz der gerade aktuellsten Technologie zu erreichen ist.

Die Maschinenbedienung – Touch, Multitouch und mehr

Trotz oder gerade wegen seiner langer Tradition wird es ihn auch im Industrie 4.0 Kontext und darüber hinaus geben: den klassischen Einzelarbeitsplatz zur Maschinenbedienung. Moderner wird er in jedem Fall, da Hardware-Tasten zunehmend durch Touch- oder gar Multitouch-Panel ersetzt werden. Die Steuerung erfolgt also stationär über eine in Software realisierte Benutzungsoberfläche (HMI), die bezüglich Erscheinungsbild und Komplexitätsgrad auf den Nutzer eingehen kann. Ein Hilfsarbeiter sollte idealerweise weit weniger Steuerungsmöglichkeiten vorfinden als etwa ein Service-Techniker. Zwar kann sich die Software tatsächlich bis zu einem gewissen Grad an aktuelle Gegebenheiten anpassen, und so gute User Experience fördern, an Grenzen stößt sie dennoch. Zum einen ist davon auszugehen, dass die Bedienung einer Maschine oft unter Einsatz von Handschuhen erfolgt, was ein haptisches Feedback während der Bedienung gänzlich ausschließt. Dies ist ein Rückschritt bezüglich Nutzungserlebnis und Prozesssicherheit. Zum anderen existiert meist eine schlechte bis gar nicht vorhandene Konnektivität – also keine Verbindung zu einem internen Netzwerk oder gar zum Internet. Das Problem des fehlenden haptischen Feedbacks wird voraussichtlich zeitlich begrenzt sein, arbeiten doch bereits einige Hersteller an haptischen Touchscreens [1]. Zudem gibt es inzwischen auch vielversprechende weil äußerst präzise Lösungen im Bereich berührungslose Interaktion, wie das Beispiel des kürzlich erschienenen Leap Motion Controllers zeigt [2]. Gerade für die Programmierung von Roboterarmen kann dies eine interessante Alternative zur Touchinteraktion darstellen. Um HMIs mit einem möglichst guten Nutzungserlebnis zu schreiben, leisten Frameworks wie WPF, Java Swing oder Qt gute Dienste [3]. Zu beachten ist jedoch, dass die Software aufgrund oft rauer Umgebungsbedingungen auf weniger leistungsstarken Industrie-PCs mit akzeptabler Performance laufen muss. Java Swing eignet sich in diesem Umfeld nur bedingt, WPF und Qt unter bestimmten Voraussetzungen. Eine Kombination aus HTML, CSS und Java-Script scheiden aufgrund der fehlenden Konnektivität eher aus.

Die Produktions-Überwachung – Smartphones und Tablets aus dem Wohnzimmer

Die Formel \’Bring Your Own Device\‘ beflügelt aktuell leitende Angestellte und Manager. Sie verspricht, dass diese nun mit ihrem persönlichen Smartphone oder Tablet die Anlagenhalle besuchen und direkt Statistiken zur Produktion erhalten können. Grundvoraussetzung für diese Vision ist zunächst ein aktueller Datenbestand und damit eine sowohl örtlich als auch zeitlich nahezu uneingeschränkte Konnektivität. Ist diese Voraussetzung gegeben, können Mitarbeiter aus einem reichhaltigen Schatz mobiler Endgeräte schöpfen – und sehen sich wie die Entwicklungsteams vor der Qual der Wahl. iPad und iPhone sind inzwischen nicht mehr die einzigen Zugpferde auf dem hart umkämpften Smartphone- und Tablet-Markt und bekommen von Android-basierten Geräten ernsthafte Konkurrenz. Selbst das Windows Phone konnte seinen Marktanteil leicht ausbauen. Es stellt sich für das Entwicklungsteam daher die Frage, wie mit geringstem Aufwand die größtmögliche Nutzergemeinde zufriedengestellt werden kann. Native Entwicklungen für iOS oder Android ermöglichen eine bestmögliche Nutzererfahrung, setzen jedoch spezielle API- oder Sprachkenntnisse voraus. Zudem implizieren sie die fremdbestimmte Veröffentlichung der Anwendung über den Marktplatz des jeweiligen Anbieters. Im Sinne des BYOD gibt aber per Definition der Mitarbeiter vor, welches Gerät er favorisiert, nicht das Unternehmen. Die daraus resultierende Technologie-Heterogenität führt dazu, dass mehrere Entwicklungsstränge für alle größeren Betriebssysteme parallel verwaltet werden müsssen. In diesem Szenario geht daher die Kombination aus HTML 5, CSS 3 und JavaScript als die überlegene Variante hervor [4].

Die Diagnose und Wartung – im Fehlerfall zur Stelle

Der Albtraum eines jeden Anlagenbetreibers ist der unvorhergesehene Stillstand seiner Produktion, denn jede Ausfallsekunde bedeutet großen wirtschaftlichen Schaden. Umso wichtiger ist auch im Industrie 4.0 Zeitalter die Investition in effektive Fehlervermeidung- und Fehlerfindungsstrategien. Fehlervermeidung beginnt oftmals mit einer guten Nutzererfahrung. Eine Benutzeroberfläche, die intuitiv und verständlich ist und kaum fehlerhafte Eingaben oder Steuerungen zulässt oder die gar vor einem anstehenden Betriebsausfall warnt, führt auch zu einem beständigeren und stabilen Betriebsablauf. Gänzlich vermeidbar sind Fehler, z.B. wegen Verschleiß, jedoch nicht, weshalb auch die Fehlerfindung betrachtet werden muss. Ein Wartungstechniker muss zunächst ortsunabhängig darüber in Kenntnis gesetzt werden können, dass in einem Anlagenteil ein kritischer Fehler vorliegt. Oftmals wird dies bereits durch automatisches Versenden einer SMS realisiert. Dieses auf 160 Zeichen beschränkte Medium eignet sich jedoch nur unzureichend, die für ein koordiniertes Ausrücken notwendigen Kontextinformationen gleich mitzuliefern. Informationen, aufgrund dessen der Wartungstechniker zum Beispiel entscheiden kann: \“Muss ich mit Assistenz anrücken?\“, \“Muss ich Spezialwerkzeug mitbringen?\“ \“Kann ein Kollege vor Ort bereits erste Notfallmaßnahmen einleiten?\“ Wünschenswerter ist es daher, dass der Wartungstechniker eine Nachricht auf sein Smartphone bekommt, die lediglich einen Link zum Diagnosesystem für das betroffene Anlagenteil enthält. Da alle Komponenten im Sinne des \’Internets der Dinge\‘ [5] miteinander kommunizieren und ihre Sensor- und Positionsdaten an einen gemeinsamen Server liefern, wird der Wartungstechniker durch Folgen des Links in Echtzeit über den gesamten Fehlerkontext in Kenntnis gesetzt. Im Sinne einer guten Nutzererfahrung zeigt das Diagnosesystem dem Wartungstechniker den Weg zum Fehlerort und visualisiert den Echtzeit-Zustand der Anlage in 3D, so dass fehlerhafte Anlagenteile in dieser \’digitalen Fabrik\‘ bereits deutlich hervorgehoben werden – ganz so als wäre er bereits vor Ort. Gerade Echtzeit-3D-Daten machen aktuellen mobilen Endgeräten jedoch noch Probleme. Doch dank der Spieleindustrie ist auch hier Abhilfe in Sicht. Zum einen wartet die für Browser konzipierte WebGL-Technologie [6] bereits mit einigen beeindruckenden Studien auf, zum anderen bringt der aktuelle Trend des sogenannten Cloud Gamings [7] (oder \’Gaming as a Service\‘) eine revolutionäre Möglichkeit der dezentralen Echtzeitvisualisierung hervor. Nvidia hat in diesem Zuge die erste serverseitige Grafikkarte \’Nvidia Grid\‘ [8] vorgestellt. Anstatt das verarbeitete Pixelbild an einen Bildschirm \’zu senden\‘, enkodiert die GPU die darzustellenden Frames in Echtzeit zu einem H.264 Stream und schickt diese quasi als Film durchs Netz. In umgekehrter Richtung werden nur Eingabeereignisse über die Leitung geschickt. Diese traditionell als \’Desktop Virtualisierung\‘ bekannte und als äußerst sicher geltende Technologie geht damit in die nächste Runde und kann, anders als in der Vergangenheit, jetzt auch in puncto User Experience höchsten Anforderungen gerecht werden. Die gesamte digitale Fabrik auf einen Blick, auf jedem noch so schwachen Endgerät – eine greifbar nahe Vision.

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