Ein Erfahrungsbericht

User-Centric Design im industriellen Umfeld

Die Industrie stellt immer höhere Anforderungen an User Interfaces, da Software zunehmend herkömmliche Abläufe ersetzt oder zumindest unterstützt. Zum einen werden auf der Feldebene die Sensoren und Aktoren intelligenter und verarbeiten somit mehr Daten, z.B. bei der automatischen Erkennung des Wartungszeitpunkts. Zum anderen steigen auf den oberen Ebenen der Automatisierungspyramide die Anforderungen an die Software, um die Prozessdaten mit Systemen etwa für die Prozessvisualisierung oder das Engineering zu verknüpfen. Da der Mensch in all diese Prozesse eingebunden ist, muss er auch bei der Definition der Software im Mittelpunkt stehen. Welche Herausforderungen kommen auf die Hersteller zu?

Die Kernelemente des User-Centric-Design-Prozesses werden in Bild 1 dargestellt. Beim Design der Software müssen die Ziele der Anwender, die Prozessabläufe und die konkreten Anforderungen an die Software mit einbezogen werden. Design-Prinzipien sind an dem Anwender auszurichten und es ist darauf zu achten, dass die Design-Vorgaben konsequent für den gesamten Lebenszyklus gelten. Die Durchführung, die Anpassung und die Kombination der einzelnen Schritte, mit dem Ziel ein innovatives und effizientes Design zu entwerfen, sind die wahren Herausforderungen.

Sind Anwender und Ziele bekannt?

Um die Anwender und deren Ziele kennenzulernen, macht es Sinn, Interviews oder Beobachtungen in ihrem Nutzungskontext durchzuführen. Erfahrene Usability-Experten können die richtigen Fragen stellen. Vor allem im industriellen Umfeld sind die Anwender für den Hersteller der Software häufig nicht erreichbar. In diesen Fällen bietet es sich an, Personen heranzuziehen, die die Ziele der Anwender sehr gut kennen, z.B. Produktmanager, Support-Mitarbeiter oder Vertrieb. Aus den Zielen und Informationen lassen sich dann Persona-Beschreibungen erstellen. Hilfreich für die Beschreibung einer Persona sind beispielsweise ein Bild und die erzählende Form. Der Begriff Persona stammt ursprünglich aus dem Schauspielbereich und bezeichnet einen repräsentativen fiktiven Charakter, den einen Schauspieler lebensecht darstellt. Durch die Aufnahme mehrerer Charaktere entsteht eine Persona Landkarte, die einen sehr guten Querschnitt über alle Anwender des Systems bildet. Bild 2 zeigt ein Beispiel einer Persona Landkarte. Die Praxis hat gezeigt, dass die Beteiligten eines Software-Projekts die Persona-Beschreibungen und die Persona-Landkarte verinnerlichen müssen, um ihre Bedürfnisse ausreichend würdigen zu können.

Wie arbeitet der Anwender, um seine Ziele zu erreichen?

Des Weiteren ist es wichtig, den Prozess und den Kontext zu verstehen. Schnell kann ein User Interface entstehen, das sich nicht am Prozess und an der Umgebung des Anwenders orientiert und somit nicht effizient ist. Zur Erläuterung soll ein Beispiel für die Parametrierung von Feldgeräten mit einem Tablet dienen: Die Parametrierung erfolgt in der Regel parallel zur Inbetriebnahme einer Anlage und findet häufig in einer rauen Umgebung statt. Unterbrechungen bei der Arbeit, hohe Kontraste in der Darstellung und die Bedienfähigkeit mit Handschuhen können resultierende Anforderungen hieraus sein. Aus der Arbeitsweise und über Brainstorming werden Ideen für den Soll-Prozess gesammelt. Werden die Soll-Prozesse verbal formuliert und mit den Personas in Verbindung gebracht, so spricht man auch von Kontextszenarien. Über eine Kartenabfrage und anschließende Kategorisierung lässt sich leicht eine Basis für einen einheitlichen Detaillierungsgrad der Kontextszenarien schaffen. Auch während der Aufstellung von Kontextszenarien sollten die Personas jederzeit präsent sein bzw. für eine kontinuierliche Validierung im Mittelpunkt stehen. In verschiedenen Projekten hat M&M Software die Erfahrung gemacht, dass die Validierung unter Verwendung von Personas teilweise gravierende Fehler innerhalb der Kontextszenarien aufdecken kann.

Welche Anforderungen muss das User Interface erfüllen?

Personas und Kontextszenarien bilden die Basis für die Gestaltung des User Interfaces, ergänzt um weitere funktionale und nicht-funktionale Anforderungen. Wie kommt man nun zu den tatsächlichen Anforderungen? Ausgehend von den Kontextszenarien lassen sich diese in Interviews und Workshops ermitteln. Der Interviewer oder Moderator muss sowohl über Erfahrung im methodischen als auch im industriellen Umfeld verfügen, um mit den richtigen Fragen die entscheidenden Anforderungen zu ermitteln. Kernfunktionen der Anwendung, verwendete Datenobjekte, Qualitätsvorgaben, vorhandene technische Restriktionen, Formfaktoren für das zukünftige User Interface, Ein- und Ausgabemethoden wie beispielsweise Touch-Bedienung sind weitere wichtige Aspekte. Vielen Anbietern von Software aus dem industriellen Umfeld ist auch das Branding des entstehenden User Interfaces sehr wichtig. Die Anforderungen werden verdichtet, abgestimmt, priorisiert und in einem Lastenheft festgehalten. Prototypische Darstellungen des User Interfaces liefern hierbei die notwendigen visuellen Bilder, sodass die zukünftigen Leser, wie Produktmanager, Designer, Firmware-Entwickler, das Lastenheft leicht verstehen und validieren können. Ein Review der aufgenommenen Anforderungen durch den Anwender bzw. Kunden rundet die \’archäologischen\‘ Nachforschungen ab.

Wie wird das User Interface gestaltet?

Anschließend erfolgt das Design der Anwendung. Die Auswahl an Plattformen und damit einhergehend die Vielfalt an Vorschriften ist riesig. Die klassische Vorgehensweise im industriellen Umfeld, die User Interface Definition von Entwicklern erstellen zu lassen, ist bei Anwendungen, die eine hohe Usability erfordern, nicht mehr zielführend. Entscheidend ist der Einsatz von erfahrenen Designern bei der Erarbeitung der Lösungen. Sie haben die Prinzipien des Designs, z.B. selbstbeschreibend, pragmatisch, aufgabenorientiert und elegant, verinnerlicht und haben bereits einen großen Fundus an möglichen Lösungen für verschiedene Szenarien parat. Designer nutzen Personas, Kontextszenarien und die Anforderungen, um Ideen für das zukünftige User Interface zu entwickeln. Zum Beispiel legen sie die Design Sprache, das Branding, die Art der Navigation, die Darstellung des Inhalts und die Verwendung der Controls fest. Über ständige Anpassungen und Diskussionen anhand von Prototypen wird in mehreren Iterationen sichergestellt, dass der Anwender auch in dieser Phase immer im Zentrum des Geschehens ist. Die Design Studie in Bild 3 verdeutlicht beispielhaft, wie die einzelnen Elemente aus dem User-Centric Design in die Gestaltung des Interfaces einfließen:

  • Der Anwender hat das Ziel, Parameter zu einem Feldgerät einzustellen. Über den groß gewählten Inhaltsbereich [1a] und der zweispaltigen Darstellung [1b] wird er bei der Erfüllung seiner Aufgabe optimal unterstützt.
  • Der Prozess sieht vor, dass er in der Anwendung immer wieder andere Aufgaben abarbeiten muss. Über die vorhandene Menüstruktur behält er auch bei Unterbrechungen im Arbeitsablauf den Überblick. Mit zwei Aktionen gelangt man schnell an jede Stelle der Applikation.
  • Der Auftraggeber hat die Anforderung, dass er mit dem Produkt in Verbindung gebracht wird. Das Branding des Kunden lässt sich über Logos und Farben [3] realisieren.
  • Der Kontext des Anwenders sieht eine mobile Anwendung vor, somit stehen keine externen Eingabegeräte zur Verfügung. Die Lösung: ein Tablet [4a] mit Touch-Bedienung und größeren Bedienelementen [4b].
  • Die Navigationselemente entsprechen den Design-Vorgaben für die vorgegebene Zielplattform – hier Menüelemente und Eingabefelder für Android [5].

Während und nach der Gestaltung der Prototypen, Mockups und Storyboards gilt es das Design immer und immer wieder zu validieren. Alle Design-Entscheidungen, z.B. Auswahl der Farbe, Art und Ort der Linien, Art der Navigationselemente müssen begründet werden können – nur so entsteht ein User Interface, das auch wirklich den Wünschen der Anwender entspricht. Häufig steht am Ende des Designs ein Style Guide, der alle wichtigen Entscheidungen und Vorgaben dokumentiert und aufbereitet.

Was passiert nun mit dem Design?

Während und nach der Erstellung des Designs, muss sichergestellt werden, dass sich das Design in der Entwicklung effizient umsetzen lässt. Dies wird durch die Auswahl von Design- und Entwicklungs-Tools erreicht, die eine spätere Wiederverwendung der Design-Elemente ermöglichen und Doppelarbeit vermeiden. Die Vorgaben für das User Interface und die getroffenen Design-Entscheidungen sollten in adäquatem Maß an die Entwicklung kommuniziert werden. Für die verständliche Dokumentation eignet sich ein Style Guide sehr gut. Der intensive Wissensaustausch mit dem neu zu schaffenden Design sollte eher in Präsenzveranstaltungen stattfinden. Bei Änderungen am Design – die erfahrungsgemäß immer gefordert sind – muss man auf die Einhaltung der Integrität achten. Regeln, die im Style Guide festgelegt sind, dürfen auch bei neu hinzugefügten Elementen nicht verletzt werden.

Fazit und Empfehlungen

Der beschriebene User-Centric Design Prozess ist nicht neu, viele Elemente sind aus dem traditionellen Usability Engineering im industriellen Umfeld bekannt. Neu sind allerdings die gesetzten Schwerpunkte während des Design-Prozesses. Hierzu zählen beispielsweise die Berücksichtigung des Anwenders und dessen Ziele in allen Entwicklungsphasen. Neu sind auch einige Methoden und Verfahren, die in ihrer Anwendung innerhalb des Gesamtprozesses zu einem effizienten nutzerzentrierten Design führen, etwa die Erstellung von Personas und die Ermittlung von Kontextszenarien. Was bedeutet das nun für Anbieter von Software-Lösungen? Sie müssen die Gestaltung des User Interfaces ganzheitlich betrachten, indem sie die Ziele, die Prozesse und den Kontext des Anwenders einbeziehen. Dazu kommt ein mehrfaches Iterieren innerhalb des Design-Prozesses, durch die Verwendung von Prototypen unterschiedlicher Detaillierungsgrade. Der Anbieter sollte wichtige Punkte des aktuellen Projektes identifizieren und den Prozess entsprechend adaptieren. Es kann auch Sinn machen, den Ist- und den Soll-Prozess in einem Workshop gemeinsam aufzunehmen. Wichtig hierbei ist nur, dass man den Gesamtprozess im Auge behält und den Anwender stets in den Fokus des Entwicklungsprozesses und des zukünftigen User Interfaces rückt.

User-Centric Design (UCD) oder nutzerzentriertes Design stellt den Anwender in den Mittelpunkt der Software-Entwicklung bzw. des Designs. Mit dem User-Centric Design Prozess wird das User Interface auf die Bedürfnisse und Ziele der Anwender ausgerichtet. Nutzerzentriertes Design gehört innerhalb der Software Entwicklung zu den Design-Methoden, die eine hohe Gebrauchstauglichkeit und User Experience zum Ziel haben. Die Methode hat ihre Wurzeln in der Human-Computer Interaction (HCI), das in den 1980er-Jahren aufgekommen ist. In den 1990er-Jahren hat UCD den Begriff des Usability Engineerings nach und nach abgelöst. Auch wegen des Booms der mobilen Endgeräte erfährt die Design-Methode eine immer stärker werdende Bedeutung.

M&M Software GmbH
http://www.mm-software.de

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