Transparenz durch Bedien- und Leitfunktionen: Anlagenvisualisierung in der Sprinterproduktion

Die hohe Auslastung der Produktionslinie des Nutzfahrzeug-Rohbaus im DaimlerChrysler-Werk Düsseldorf fordert vom HMI-System hohe Verfügbarkeit, gute Bedienbarkeit und schnelle Reaktionsfähigkeit. Die Software RSView SE von Rockwell übernimmt dabei HMI-Aufgaben vom Werkerbediensystem im maschinennahen Bereich bis hin zum Visualisierungstool des Leitsystems.

Das Werk Düsseldorf, das seit 1962 zur Daimler-Benz AG gehört, hat 1994 mit der Produktion der Sprinter-Familie begonnen und meldete im November 2003 bereits den millionsten produzierten Sprinter. Im Jahr 2006 soll der Modellwechsel unter dem internen Projektnamen NCV3 fortgesetzt werden. Die Planung für die Fertigung geht von 150.000 Fahrzeugen pro Jahr aus, aufgeteilt auf vier Marken (Mercedes Sprinter, Dodge Sprinter, Freightliner Sprinter und VW Crafter). Besonderes Merkmal der auftragsbezogenen Produktion ist die Variantenvielfalt im Karosseriebereich: Die Kunden können über 64.000 verschiedene Kombinationen bestellen – Z.B. Kastenwagen oder Kombis in vier Fahrzeuglängen und drei Höhen bei verschiedenen Tonnagen zwischen 3,5 und 5t, als Rechts- oder Linkslenker, mit oder ohne Schiebetüren. Nahezu jedes gefertigte Modell unterscheidet sich vom nächsten, und alles wird auf einer einzigen Produktionslinie gefertigt. Wie die Anlagensimulation gezeigt hat, liegen in diesem Produktionskonzept Vorteile gegenüber parallelen Linien, so z.B. wenig Flächenbedarf, wenig Bedienpersonal erforderlich. Aber es stellt auch besondere Ansprüche an eine stabile und funktionelle Leittechnik, weil die Risiken beim Ausfall von Produktionsanlagen hoch sind. Anforderungen an das Bedienkonzept Schon die Vorstellung, welche Konsequenzen ein Anlagenstillstand hätte, verdeutlicht die zentrale Rolle der Visualisierung in Bezug auf Diagnoseinformationen, übergreifende Transparenz und intuitive Bedienbarkeit: Bei einem Produktionstakt von weniger als 100s pro Fahrzeug führt jede Unterbrechung der Produktion schnell zu Ausfallkosten zwischen 20.000 und 25.000EUR pro nicht gefertigter Karosse. Dabei ist der Verlust an Profit und Material nicht eingerechnet. Jede Minute, die man durch Verkürzung des Stillstands gewinnt, senkt also die Kosten um rund 15.000EUR. Die hohe Auslastung der Produktionslinie und die komplexe Gesamtstruktur erfordern daher vom HMI-System besondere Eigenschaften: – hohe Verfügbarkeit (Redundanz) und Stabilität, – einfache, grafische Bedienbarkeit, – Diagnoseinformationen für den Anlagenführer, – gute Erreichbarkeit und kurze Wege, – Datentransparenz über die Gesamtanlage, – schnelle Reaktionsfähigkeit, – hohe Modularität für Erweiterungen, – innovatives Konzept, das während der Anlagenlaufzeit (bei Nutzfahrzeugen durchaus bis zu 15 Jahren) Bestand hat – und ein hohes Sicherheitskonzept bei einfacher Anmeldeprozedur. Für Ulrich Hykes, Leiter der Steuerungs- und Leittechnik im Werk Düsseldorf, ist ein entscheidender Punkt die zentrale Systempflege: \“Gerade für Engineering und Instandhaltung ist es wichtig, dass Änderungen an Bildmasken, System-Updates usw. automatisch verteilt werden, um nicht jeden der 250 HMI-Clients immer wieder individuell anfassen zu müssen. Was sich außerdem bewährt hat, sind strukturierte, anlagenweit einheitliche Namens-Regeln für alle Datenobjekte – übergreifend über alle Gewerke.\“ So sind z.B. die mechanischen und elektrischen Komponenten gemäß einer einheitlichen Nomenklatur beziffert, die sich an dem Schema \’Werk-Zelle-Line-Takt-Funktion-Sequenz-Device\‘ orientiert. Das vereinfacht die Verwendung von Standards. Systemarchitektur: zentral und maschinennah Hinsichtlich der zeitlichen Präsenz der Prozessdaten unterscheidet man im Rohbau drei Bereiche: – Echtzeit – der Bereich der Maschinensteuerung (SPS, Roboter) – Zeitkritisch – der Bereich der Fertigungs-Prozess-Steuerung FPS (MES) – Zeitunkritisch – das Produktionsplanungssystem PPS (Vanis), das Back End. Die HMI-Software RSView SE erfüllt HMI-Aufgaben auf mehreren Ebenen, vom Werkerbediensystem (WBS) im maschinennahen Bereich bis hin zum Visualisierungstool des Leitsystems für die Supervisory-Ebene. Die Prozessankopplung zu den Steuerungen, Sicherheitssteuerungen, Robotern und dem Leitsystem FPS erfolgt herstellerunabhängig über OPC. Eine andere, werksspezifische Prozessankopplung für die FPS läuft über einen Middleware-Messageservice namens FPSMail. Über diesen Weg werden z.B. die Produktionsdaten zwischen der Oracle-Datenbank und den Steuerungen abgeglichen und aktualisiert. Die Auswertung der Produktionsdaten erfolgt über verschiedene Clients, die zum Teil als eigenständige Programme und/oder Module in die RSView-Oberflächen eingebunden sind, sowie über Webbrowser, die auf das FPS-Portal zugreifen (z.B. Auftragsdatenverwaltung, Objektverzeichnis, Prozessdatenverarbeitung, Management-Informationssystem MIS). MQS-Adapter der Fertigungs-Prozess-Steuerung bilden den Link zum Datawarehouse, zur Qualitätssicherung und zu Vanis, dem VAN-Information-System. RSView SE wurde als verteilte Client/Server-Applikation realisiert, wobei die Operatorstationen so genannte Full HMI Clients sind. Auf diesen Clients ist keine HMI-Applikationssoftware installiert. Deshalb kann man im Störfall einen Client schnell und ohne Software-Installationsaufwand austauschen. Zudem bietet dieser Ansatz eine gute Performance und eine geringe Netzwerkbelastung, denn die Anwendungen werden direkt auf dem Client ausgeführt. Verzeichnisdienst zur Produktionsverwaltung Die zentrale Produktionsverwaltung stützt sich auf einen Verzeichnisdienst, der eine Schlüsselfunktion in diesem Konzept erfüllt: FactoryTalk Directory. Der Service listet wie ein Telefonbuch die Namen aller Datenobjekte (Tags, Images, Screens usw.) in dem verteilten System auf. So können alle Clients, die diese Objekte in ihrer Applikation brauchen, einfach per Referenz darauf zugreifen. Sie benötigen dazu keine lokale Kopien der zyklisch aufzufrischenden Objekte. Das Konzept bietet folgende Vorteile gegenüber dem konventionellen Ansatz: – Keine ungültigen Verweise: Das System findet über den Namen immer die aktuelle Position der betreffenden Datenobjekte und hält sich so selbst aktuell. – Nach Systemänderungen, wo Objekte z.B. in andere Steuerung verschoben werden, muss man die darauf Bezug nehmenden Client-Applikationen nicht mehr anpassen. FT Directory teilt ihnen die neue Referenz automatisch mit. – Werden Bilder geändert, so wird das einmalig auf dem Server realisiert. Die Clients werden automatisch aktualisiert. – Durchgängigkeit und Transparenz in der Namensdomäne, einfache Erreichbarkeit der Objekte, egal wo sie sich befinden – und zwar der aktuellen Originaldaten, nicht der Kopien, die möglicherweise nicht den aktuellen Status beinhalten. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist Security. Wo viele Produktionsdaten online erreichbar sind, muss auf die Datensicherheit besonderer Wert gelegt werden. So sind z.B. keine Laptops oder CDs zugelassen – die benötigte Software liegt auf entsprechenden Servern. Das Risiko durch Virenbefall sinkt damit erheblich. Zugriffsrechte sind nach Personengruppen klassifiziert. Der Zugang ist nur autorisierten Personen möglich, die sich authentifiziert haben. Da üblicherweise diverse Softeware-Anwendungen eigene Zugangsprozeduren erfordern, wäre ein durchgängiges Arbeiten immer wieder durch Anmeldungen behindert. Hier hilft das \’Single Sign On\‘, die einmalige Anmeldung, die FactoryTalk ermöglicht. Die Vernetzung der Systemkomponenten (HMI, Steuerungen, Safety, Roboter) erfolgt über Ethernet 100Mbit/s mit Ringredundanz. Die nötige Performance zwischen SPS, OPC-Server und Bedienterminal ermöglichen 25 VLANs mit je einem OPC-Server, max. zehn SPSen und dazugehörigen Werk­erbediensystemen. Die Leitrechner/Server werden redundant mit 1Gbit/s an die Zelle/Werksebene angekoppelt. Erfahrungen mit dem Visualisierungs-Konzept Die große Anzahl der HMI-Clients geht deutlich über die vom Hersteller bisher empfohlenen Grenzen hinaus. So musste erst einmal analysiert werden, welche Aufgaben den Clients und Servern zugemutet werden konnte, um die gesamte Funktionalität nicht zu gefährden. Nicht alles, was das Visualisierungssystem an Funktionen bietet, ist in solch einer Architektur auch erforderlich. Weitere Erkenntnisse: – Die optimale Performance ist nur erreichbar, wenn die Netzwerkstruktur und die Anschaltung der Geräte sauber abgestimmt sind. Bandbreiten- und Last-Analysen sind wichtige Hilfsmittel zu dieser Optimierung. – Ein verteiltes System benötigt die strikte Einhaltung der Standards und Definitionen. Dadurch wird das Handling erleichtert und schnelle Erweiterungen sind möglich. Jede Abweichung führt zur Mehrarbeit. – Die starke Bindung an Windows-Funktionen und Services vereinfacht das User-Interface (wichtig für Handling und Maintenance), produziert aber auch hin und wieder unerklärliche Fehlermeldungen. Um Inkompatibilitäten mit Windows-Services zu vermeiden, ist die Verwendung von identischer Hardware und gleichen Images für alle HMI-Clients und für alle Serverstationen anzustreben. Der Produktionsanlauf zeigt, dass hier ein Konzept gewählt wurde, das einen wichtigen Baustein für die Produktion im Fahrzeugbau bildet – in Bezug auf Durchgängigkeit und Transparenz. Merkmale des Visualisierungskonzepts – verteiltes Client/Server-System RSView SE mit zentralem Zugriff – komplexe Anwendung mit 250 HMI-Clients – Technologieplattform mit FactoryTalk – herstellerunabhängige Anbindung der Steuerungsebene über OPC – webbasierter Zugriff – hohe Reaktionsfähigkeit (Performance) trotz komplexer Struktur – Datentransparenz über die gesamte Anlage – erweiterbar durch modulares Konzept – Bedieneingriffe von jeder Station möglich – einfache Bedienbarkeit, funktionsorientiert – aussagefähige Diagnoseinformation für die Fehlerbeseitigung – reduzierter Engineeringaufwand durch zentrale Pflege – änderungsfreundlich

Rockwell Automation GmbH
http://www.automation.rockwell.com

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