Die Interpretationen dessen, was Industrie 4.0 ausmacht, sind durchaus vielfältig. Dr. Jürgen Jendryschik, Experte speziell für das strategische Management (Automation, modulare Antriebskonzepte, Industrie 4.0/IoT) bei Blome+Partner, definiert den Begriff so: „Industrie 4.0 ist die Verlagerung des Designs auf den Endkunden. Dieser bestimmt sehr detailliert und passgenau, wie ’sein‘ Konsum-Produkt aussehen soll und erst dann beginnt der eigentliche Fertigungsprozess, der individuell von Kundenauftrag zu Kundenauftrag durchgeführt wird.“ Die eigentliche Revolution ist also die Produktion von Einzelstücken oder Kleinstserien. Als Beispiel nennt Jendryschik die Fertigung von Damenoberbekleidung. Diese beginnt auf einer Handelsplattform im Internet mithilfe einer Software, die der Bestellerin sowohl die Passform als auch das individuelle Design simuliert. „Um solche Produkte hochindividualisiert, also maßgeschneidert zu vergleichbaren Kosten herstellen zu können, bedarf es neuer Produktionsmethoden“, erläutert er. „Mit den bestehenden Fertigungsverfahren und ihren vergleichsweise teuren Formatwechseln ist dies nicht möglich. Wenn man nach jedem Werkstück (z.B. individuelles Kleid) einen Formatwechsel benötigt, dann sind andere Automatisierungsverfahren und Achsenkonstruktionen erforderlich.“ Die Zukunft sieht der Experte daher in kleineren, dafür zahlreicheren Fertigungszellen, kollaborierenden Achsen, mehrarmigen Robotern, Mensch-Roboter-Kollaboration und einem überlagerten Prozessrouting. „Auch die additive Fertigung von Werkstücken gehört zu den Anforderungen an die Produktion der Smarten Fabrik sicher dazu“, so Jendryschik.
Wirtschaftlichkeit bleibt die oberste Betrachtungsweise
„Effizienz und Produktivität sind auch in der Losgröße 1 das oberste Ziel.“ Um zu erläutern, wie so etwas funktionieren könnte, beschreibt Jendryschik beispielhaft folgendes Produktionskonzept einer Abfüllanlage: „Ich stelle mir eine Fabrik vor, mit fünf Produktionseinheiten: Die erste vereinzelt die Gefäße, die nächste befüllt die Gefäße, die dritte bedruckt die Gefäße und die letzte verschließt sie. Manche der Stationen wird es in einer solchen Anlage mehrfach geben. Wenn man die Auslegung der Anlage so organisiert, dass es während der Produktion immer mal Momente gibt, in denen ein Anlagenteil gerade nichts zu tun hat, bleibt auch genügend Zeit, um die Maschine automatisiert umzurüsten bzw. einen Formatwechsel vorzunehmen. Dafür bedarf es eines automatisierten Routings durch die Anlage. Dies stellt völlig neue Anforderungen an die Prozessführung und demzufolge auch an die Automatisierung. Beispielsweise gilt es, immer das passende Programm in den jeweiligen Maschinenteil zu laden. Dies lässt sich nur dann realisieren, wenn man eine bestimmte Überkapazität akzeptiert, schnelle, also automatische Formatwechsel realisieren kann und die produktspezifischen Daten (im digitalen Zwilling) in einem übergeordneten System hält, beispielsweise in der Cloud, wo auch immer diese dann tatsächlich physikalisch angeordnet ist.“ Aus dieser Datenwolke und mit Unterstützung vom digitalen Zwilling könne sich der Produktionsprozess während des Betriebs innerhalb von Sekundenbruchteilen die notwendigen Informationen wie Programm- und Parameterdaten, aber auch Produktdaten oder Rezepte usw. abrufen. Eine solche Konstruktion ermögliche dann auch die Herstellung von Massenprodukten in hochindividualisierter Form. Jendryschik erläutert, dass es heute bereits Prototypen gibt, bei denen man erahnen kann, dass so etwas machbar ist.
Die neuen Maschinenkonzepte erfordern neue Denkweisen
Welche Konsequenzen folgen daraus für Maschinen- und Anlagenbauer? Der Fabrikbetreiber – vielleicht aus der Handelsplattform getrieben – beschreibt in Zukunft die Anforderungen an das individuell vom Kunden bestimmbare Produkt und gibt dem Maschinenbauer den Auftrag, eine entsprechende Maschine zu bauen. „Die Frage wird sein, wie willig und wie fähig der Maschinenbauer sich auf solche Anforderungen einlassen wird. Er könnte argumentieren, die Forderung nach einem ständigen Formatwechsel sei unrentabel. Er kann sich jedoch auch der Herausforderung stellen und ein Produktionsmittel konstruieren, das mit heutigen Methoden und Werkzeugen eine solche Produktion wirtschaftlich ermöglicht.“ Die Richtung für die kommende IoT-konforme Maschinengeneration ist klar: Der klassische Maschinenbau wächst mit Cobots und 3D-Druckern zu einer Produktionseinheit zusammen.
Welchen Einfluss hat dies nun auf Automatisierungssysteme?
„Die einzelnen Produktionsstationen werden kleiner und dafür zahlreicher, nicht im Gesamten, sondern die Segmente“, erläutert Jendryschik und macht dies anhand eines Beispiels deutlich: „Wenn man dies einmal in Leistung ausdrücken würde, könnte man sagen: Eine Blechstraße hat heute 500kW Antriebsleistung. In Zukunft hat sie vielleicht nur 100kW Antriebsleistung, dafür stehen jedoch fünf Stück nebeneinander, weil sie so viele Varianten herstellen muss, dass die Unternehmen lieber mit fünf kleinen Blechstraßen arbeiten als mit einer großen. Dieser Trend wird weiter anhalten; es wird kleinere, dafür mehr Produktionszellen geben.“ Die Anforderungen, die sich daraus für die Automatisierungshersteller ableiten sind für Jendryschik klar: „Es werden hochflexible, hochautomatisierte und hochsynchronisierte Bewegungsprozesse benötigt, mit immer kleineren Leistungen, weil keine Großserien mehr produziert werden, sondern Einzelstücke. Dazu werden immer mehr Bewegungsachsen gefordert sein, die koordiniert werden müssen. Das alles erhöht die Anforderungen an die Kommunikationssysteme und deren Fähigkeit der Synchronisierung von Bewegungen. Auch die Anforderungen an die Sensoren wird steigen. Diese sind derzeit noch nicht in der Lage, ihre Primärdaten direkt an die Cloud weiterzugeben, was für das Prozessrouting jedoch von großer Bedeutung wäre. Das wissen die Sensorhersteller auch und sie arbeiten an entsprechenden Lösungen“, so Jendryschik. Kleinere Zellen machen eine schnellere Zellenverkettung notwendig. Ein cloudbasiertes Produktionssystem steuert in diesen Szenarien von Jendryschik das Routing durch die Produktionszellen. Dadurch muss auch diese Kommunikation mit den erhöhten Anforderungen Schritt halten können. „TSN ist sicherlich eines der Protokolle, das dabei in der Zukunft eine zentrale Rolle spielen wird“, prognostiziert der Experte. Dass eine prozesskritische Produktionscloud entfernt im Internet liegt, glaubt Jendryschik hingegen nicht: „Das ist derzeit weder technisch noch psychologisch sinnvoll.“ Die Steuerungstechnik wird nach seiner Meinung hingegen immer dezentraler organisiert werden. Dadurch, dass es immer kleinere, dafür zahlreichere Produktionseinheiten geben wird, werden mehr aber kleinere Steuerungen benötigt, die dann wiederum hochsynchron zu anderen Zellen arbeiten können müssen. Zentralen Steuerungsansätzen räumt Jendryschik hingegen keine große Chancen ein. „Die Autonomie der einzelnen Teile einer Produktionslösung wird immer weiter zunehmen und die einzelne Achse wird immer intelligenter werden,“ prophezeit Jendryschik.