Demofabrik Application Park am Werkzeugmaschinenlabor

Automatisierungssysteme für kundenindividuelle Produkte

Die automatisierte Herstellung kundenindividueller Produkte setzt das Zusammenspiel unterschiedlicher Unternehmensbereiche vom Marketing bis zur Logistik voraus. Dabei erfolgt ein intensiver Informationsaustausch zur Planung und Ausführung der einzelnen Produktionsprozesse, um diese jeweils an die spezifischen Individualisierungsmerkmale des Produktes anzupassen.

Der sich beschleunigende Trend hin zu einer stärkeren Individualisierung industriell hergestellter Produkte (Mass Customization) erfordert eine zunehmende Integration der verschiedenen Phasen des Produktlebenszyklus. Einmalig erstellte Dokumente bzw. Informationen werden wiederholt an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeitpunkten zur Produktherstellung benötigt. Eine effektive Vernetzung ist daher die Grundvoraussetzung für die wirtschaftliche Produktion von Klein- bzw. Kleinstserienprodukten und stellt gleichzeitig die höchsten Anforderungen an die angegliederten Steuerungssysteme. In diesem Zusammenhang stellt die durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Initiative \’Industrie 4.0\‘ das übergeordnete Leitthema für die intensiv vernetzte Fertigung dar. Ausgehend von einem zunehmenden Grad des Informationsaustauschs lassen sich die jeweiligen Anforderungen und die realisierbaren Potenziale für die verschiedenen Ebenen der Automatisierungspyramide ableiten. Der Forschungsbedarf betrifft dabei insbesondere die Leittechnik automatisierter Produktionssysteme, welche einerseits den Informationsaustausch organisieren und andererseits eine Verwaltung der zur Verfügung gestellten Informationen durchführen muss.

Application Park: Von der Spritzgussanlage bis zur flexiblen Highspeedmontage

Die resultierende Komplexität praxisrelevanter Produktionssysteme lässt sich im Umfeld öffentlich geförderter Forschungsaktivitäten allerdings nur schwierig darstellen, da die Umsetzung sehr viele und stark unterschiedliche Kompetenzen voraussetzt. Der Lehrstuhl für Werkzeugmaschinen am Werkzeugmaschinenlabor (WZL) der RWTH Aachen kann hier auf ein Netzwerk aus industriellen Partnern zurückgreifen und die verschiedenen Kompetenzen für die umfassende Realisierung von Feld-, Steuerungs- und Automatisierungstechnik nutzen. So wurde mit dem Application Park in enger Zusammenarbeit mit der Firma Phoenix Contact ein Szenario entwickelt (vgl. Bild 1), bei dem Kunden über eine Tablet-Software die Möglichkeit erhalten, Baugruppen individuell zu gestalten. Die Produktdaten werden anschließend als Aufträge zur Ressourcenplanung einem ERP-System übergeben, das die Grobplanung der Produktion auf Unternehmensebene durchführt. Zur Feinplanung der auszuführenden Fertigungsprozesse wurde eine Schnittstelle zwischen dem ERP-System (SAP Business One) und einem neu entwickelten Manufacturing Execution System (MES) implementiert. Das MES kapselt die produktionsspezifischen Fähigkeiten des Application Parks und steuert die an die Individualisierung der Produkte anzupassenden Herstellungsprozesse. Dazu muss es die vom ERP-System bereitgestellten Produktdaten geeignet interpretieren und hieraus eine Feinplanung der Produktionsprozesse vornehmen können.

Das Applikationsszenario

Im Applikationsszenario hat der Kunde die Möglichkeit, die Oberfläche von Hubelino-Bausteinen individuell zu gestalten und zu einer eigenen Montagebaugruppe zusammenzufassen. Das MES beginnt dann mit der Abarbeitung des Auftrages, indem einzelne Bausteine als Halbzeuge durch eine Spritzgussanlage produziert werden. Anschließend erfolgt eine Qualitätsprüfung der Standardteile mit einem Lasermikrometer sowie die Markierung der Einzelteile für eine spätere automatische Identifikation durch RFID-Technologie. Im dritten Schritt werden die Bauteile von einem in die Automatisierungsumgebung integrierten Farbdrucksystem auf UV-LED-Basis kundenindividuell von mehreren Seiten bedruckt. Die Handhabung der Bauteile geschieht durch mehrere Industrieroboter, die über eine spezielle Greiftechnik für das schnelle Wenden der Bauteile verfügen. Nach dem Druck werden die Bauteile in unbestimmter Reihenfolge in eine automatisierte Montageanlage geführt, die die Bauteile identifiziert, die RFID-Chips entfernt und verteilt auf mehreren Arbeitsplätzen montiert. Eine automatisierte Verpackungsstation sowie ein Lager, an dem sich der Kunde mit seinem Tablet direkt anmelden kann, komplettieren das Szenario.

Webservices ermöglichen die zielorientierte Verknüpfung offener Steuerungstopologien

Im Hinblick auf eine Produktion und Montage kundenindividueller Baugruppen ergeben sich mehrdimensionale Optimierungsprobleme, da für jeden einzelnen Hubelino-Baustein individuell der Weg und damit seine Handhabung durch den Application Park bis hin zur Montage in der finalen Baugruppe geplant werden müssen. Die Programmierung der verwendeten Automatisierungstechnik nach konventionellem Vorgehen resultiert hier in wenig flexiblen Programmen, die nur schwer an veränderte Bedingungen wie z.B. einem veränderten Produkt angepasst werden können. Um diese Hindernisse zu reduzieren, werden im Application Park Methoden untersucht, die eine automatische Anpassung an neue Produktionsvoraussetzungen und -ziele ermöglichen. Der entwickelte Ansatz nutzt Webservices, die die Maschine-zu-Maschine-Kommunikation realisieren. Die Webservices definieren dabei, wie ein bestimmter Service bzw. Dienst einer Produktionskomponente (beispielsweise \’Stein bedrucken\‘) parametriert und genutzt werden kann. Auf diese Weise wird eine Kapselung der zur Ansteuerung der unterschiedlichen Komponenten genutzten Schnittstellen erreicht und die heterogene Steuerungsarchitektur vereinheitlicht. Weiterhin wird auf dieser Basis die Möglichkeit zur einfachen Erweiterung des Application Parks um zusätzliche Anlagenkomponenten, wie z.B. eine kurzzeitige manuelle Produktionsunterstützung, geschaffen. Die Zusammenschaltung und Verknüpfung der Webservices erfolgt auf MES-Ebene anhand des individuell vorgegebenen Produkts.

Objektidentifikation als Kernprozess adaptiver Automatisierungssysteme

Die wiederkehrende Identifikation von Bauteilen und Baugruppen aufgrund der undefinierten Bauteilzuführung stellt ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zu klassisch-deterministischen Automatisierungssystemen dar, in denen eine eindeutige Reihenfolge durch die Prozesse eingehalten werden muss. Um individuelle Produkte durch ein starr automatisiertes System zu leiten, muss diese Reihenfolge durch das Leitsystem stets verfolgt und vor möglichen Veränderungen (z.B. durch manuelle Eingriffe) geschützt werden. Je größer bzw. komplexer das Produktionssystem ist, desto aufwändiger wird die Programmierung des Leitsystems. Ein Ausfall und anschließender Wiederanlauf des Gesamtsystems bedeutet daher, neben dem resultierenden Produktionsstillstand häufig auch, dass eine manuelle Anlaufphase durchlaufen werden muss. Um die Komplexität auf Ebene des MES zu senken, wird im Application Park daher der Ansatz verfolgt, Produkte bei Eintritt in eine Fertigungszelle zu identifizieren und den Materialfluss sowie die Einzelprozesse auf Zellenebene anhand einer Bauteil-ID zu planen. Um hier eine möglichst hohe Kosteneffizienz zu erzielen, wurde ein temporärer Einbau der zur Identifikation genutzten RFID-Chips mit Rückführung vor der Montage realisiert.

Produktbezogene Modelle bilden die Grundlage der flexiblen Betriebsmittelprogrammierung

Die Individualisierung bei der Produktgestaltung setzt im Application Park einerseits voraus, dass die Herstellungsprozesse ohne konstruktive Umbaumaßnahmen an die Individualisierungsmerkmale angepasst werden können. Andererseits müssen die Steuerungsprogramme insbesondere bei der automatisierten Montage unterschiedlicher Baugruppen jeweils an einen neuen Bauplan angepasst werden. Um diese Schwierigkeiten, die sich aus der Komplexität des Produktionssystems ergeben, effizient zu lösen, bieten modellbasierte Steuerungskonzepte die Möglichkeit, Prozesse bzw. Entscheidungen direkt mit den Eigenschaften des Produktmodells zu verknüpfen. So kann auf Grundlage der geometrischen CAD-Daten ermittelt werden, ob Baugruppen mit der aktuellen Betriebsmittelkonfiguration hergestellt werden können. In gleicher Weise können umgekehrt auch die Grenzen, in denen ein Kunde sein Produkt individuell gestalten kann, direkt von der aktuellen Anlagenkonstruktion abgeleitet werden. Bezogen auf die Montage bzw. Demontage wurde darüber hinaus eine Steuerungssoftware auf Zellenebene implementiert, die die CAD-Daten der Produktbaugruppen interpretiert und hieraus einen Arbeitsplan sowie die notwendigen Befehle für die Roboter- und Logiksteuerung generiert (Bild 2). Auf diese Weise wird der Herstellungsprozess bestmöglich an das Engineering (individuelle Bauteilgestaltung) angegliedert.

Ziel: Potenziale der vernetzten Produktion verstehen

Der am WZL entwickelte und aufgebaute Application Park ermöglicht die vollständige Abbildung eines modernen Produktionssystems von der Unternehmens- bis zur Feldebene inklusive der Ausarbeitung von Konzeptstudien einzelner Automatisierungsschritte. Innerhalb dieses Produktionssystems können neue Steuerungskonzepte (beispielsweise mit kognitiven Anteilen) auf allen Ebenen der Automatisierungspyramide entwickelt und validiert werden. Der Application Park kann damit insbesondere die systemischen Anforderungen der \’Industrie 4.0\‘ für vernetzte Steuerungsarchitekturen darstellen, anhand derer die Übertragbarkeit und Anwendbarkeit auch auf neue Industrieanlagen sichergestellt wird. Diese Steuerungsarchitekturen werden anhand des Application Parks in enger Zusammenarbeit zwischen Partnern aus der Industrie und des WZL bis zur Industriereife weiterentwickelt und bieten somit wertvolle Erfahrungen zur Optimierung industriell eingesetzter Produktionsanlagen oder zur Bewertung von im jeweiligen Unternehmen geplanter Maßnahmen. So werden industrienahe Erweiterungen und Evaluationen von Automatisierungskonzepten auf Zellen-, Stations- und Anlagenebene durchgeführt, die eine spezielle Analyse, die Ermittlung von Leistungsbenchmarks oder eine Wirtschaftlichkeitsbetrachtung ermöglichen. Somit können in der Demofabrik des WZL Forschungsprojekte unter Berücksichtigung industrieller Rahmenbedingungen durchgeführt werden.

WZLforum gGmbH
http://www.wzl.rwth-aachen.de

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