Es ist ein bisschen das Smartphone-Prinzip: Man entwickelt nicht einfach eine Maschine für einen bestimmten Zweck und die Software dient zu deren Funktion, nein, man entwickelt eine flexible Maschine, besser Gesamtanlage, deren Funktionalität dann im Wesentlichen durch die Software bestimmt wird. Die Wertschöpfung wandert verstärkt in die Software, neue Geschäftsmodelle außerhalb der etablierten Predictive-Maintenance-Konzepte tun sich auf. So in etwa lässt sich Software-defined Manufacturing (SDM) sehr verkürzt beschreiben.
Nachdem sich die Stuttgarter Innovationstage in den vergangenen Jahren Themen wie Steuerungstechnik aus der Cloud, Blockchain, IT-Security, künstlicher Intelligenz oder konvergenten Netzen gewidmet haben, standen 2022 digitales Engineering und die Idee des Software-defined Manufacturing im Vordergrund. Über Umsetzungsmöglichkeiten des neuen Denkansatzes sprachen am 22. und 23. Februar Experten aus Automatisierung und Maschinenbau in Stuttgart. Die meisten davon live.
„Endlich wieder eine Präsenzveranstaltung“ – das war einer der am häufigsten gehörten Sätze auf den Innovationstagen. Wobei Corona natürlich immer noch zu spüren war: Nur rund 70 statt früher mehrere Hundert Teilnehmer trafen sich in der Reithalle des Maritim-Hotels, an separat gestellten Einzeltischen statt einer engen Parlamentsbestuhlung. Zudem war der Kongress als Hybridveranstaltung ausgestaltet: Weitere rund 50 Teilnehmer hatten sich – zum vollen Preis – digital eingeloggt und verfolgten die Vorträge am heimischen Bildschirm.
Die hybride Ausgestaltung der Show war auch für einige Referenten notwendig. Denn manch einer hatte von seiner Firmenleitung schlicht noch keine Reisefreigabe erhalten. Spannend dabei: Je größer das Unternehmen, desto restriktiver die Vorgaben. Während die Vertreter mittelständischer Firmen bereits munter auf Reisen sind (O-Ton eines Teilnehmers: „Endlich wieder Außendienstler-Stau auf der Autobahn, ich hab’s echt vermisst…“), brauchten Besucher von Konzernen wie Siemens oder Audi spezielle Geschäftsleitungs-Genehmigungen. Für einen Referenten von Intel waren Ende Februar 2022 noch überhaupt keine Reisen erlaubt, was er auf der Großleinwand des Vortragssaales auch ausdrücklich bedauerte.
Nichtsdestotrotz, die Stimmung war gut, die Technik funktionierte dank des engagierten Einsatzes einiger Doktoranden der Uni einwandfrei und – sicher am wichtigsten – die Vorträge waren gehaltvoll.
Software gibt den Takt vor
Software-defined Manufacturing (SDM) ist noch nicht reif. Es ist eine Vision, ein Forschungsprojekt, allerdings ein wichtiges. Der Name lehnt sich deutlich an Software-defined Networking (SDN) an, eine Methode zu Entwicklung, Aufbau und Betrieb großer Netzwerke, bei der das Netzwerkmanagement von einem zentralen Server aus per Software programmiert wird. SDN ermöglicht Netzadministratoren, das Netz einfacher zu verwalten, indem die unteren Funktionsebenen in virtuelle Services abstrahiert werden: Die Hardware muss nicht mehr manuell konfiguriert werden. Zudem gibt es eine Trennung von Diensten und Infrastruktur: Typische Anbieter von Netzwerkservices bieten Software, kümmern sich aber nicht um die physische Ethernet-Hardware. Diese wird vorausgesetzt.
Das ist in der Automatisierung (noch) anders: Zwar stellen hohe Produktvariabilität und kurze Produktionszyklen besondere Anforderungen an die Wandlungsfähigkeit der Produktionssysteme. Und tatsächlich sind diese heute hardwareseitig oft variabel, sodass sie bei sich ändernden Anforderungen einigermaßen flexibel umgebaut werden können. Allerdings bedeutet das in den meisten Fällen, dass aufwendige Änderungen an der Software nötig werden – bis hin zu einer kompletten Neuprogrammierung. Von der je nach Branche notwendigen Neuzertifizierung ganz zu schweigen.
Auf der anderen Seite: Die Digitalisierung der Industrie schreitet unaufhaltsam voran, Stichwort Industrie 4.0 oder IIoT. So wie in anderen Bereichen der Digitalisierung mittlerweile Plattformen und Abstraktionsschichten entstanden sind, die das Einspielen neuer Funktionen unabhängig von der Hardware ermöglichen, ist nach dem SDM-Konzept auch in der Produktion eine konsequente Entkopplung von Hard- und Software erforderlich.
Wie diese Idee umgesetzt werden könnte, präsentierten zahlreiche Experten aus Forschung und Industrie, allen voran die Professoren Dr. Alexander Verl und Dr. Oliver Riedel vom ISW.
Immer vorn dabei: Die Automobilisten
Ebenfalls vorgestellt wurde das recht neue Projekt SDM4FZI, also Software-defined Manufacturing für die Fahrzeug- und Zulieferindustrie, an dem sich mittlerweile über 30 Firmen aus und um die Automotive-Industrie beteiligen. Denn gerade hier zeigt sich: Die Herausforderung in der Fahrzeug- und Zulieferindustrie besteht darin, trotz hochvolatiler Märkte und unter dynamischen Bedingungen wirtschaftlich zu produzieren. Das bedingt eine Wandlungsfähigkeit der Produktionssysteme. Das Projekt beschäftigt sich daher mit SDM, um analog zu Lösungen aus der Informations- und Kommunikationstechnik auch nicht vordefinierte Funktionen durch automatisch generierte Software realisieren zu können.
Grundvoraussetzung, so die Referenten für dieses Thema, sei die Abstraktion der vorhandenen Hardware durch digitale Zwillinge, mit deren Hilfe die Software automatisch abgeleitet und verteilt werden könne. Dazu sei die vorhandene Produktions-OT (Operational Technology) neu zu denken, um die Steuerungs- und Kommunikationsinfrastruktur SDM-fähig zu gestalten. SDM schaffe die Grundlage für innovative Anwendungen und Geschäftsmodelle, die als Kern digitale Zwillinge zur Optimierung wandlungsfähiger Produktionssysteme verwenden.
Immer wieder erwähnt wurde in diesem Zusammenhang das Thema Standardisierung mittels Verwaltungsschale, wobei auch neue Modelle wie eine Rezeptorentheorie als Wandlungstreiber vorgestellt wurden. Dass in der Automatisierungstechnik auch noch ein erheblicher Bedarf an Interoperabilität herrsche, schien zumindest bei den Referenten Konsens zu sein.
Ausflug in die ISW Maschinenhalle
Der zweite Konferenztag wurde noch durch einen Ausflug in die 60m neben dem Tagungsort liegende Maschinenhalle des ISW aufgelockert. Ziel dieser Versuchsanlage ist es, Forschungsergebnisse praxisnah umzusetzen, sozusagen die Verbindung von Stahl und Steuerungstechnik zu proben. Entsprechend stellten wissenschaftliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des ISW hier zahlreiche Exponate zu Virtualisierung, Simulation und KI aus, flankiert von Laseranlagen und Robotik-Anwendungen.
Insgesamt waren die Stuttgarter Innovationstage eine inspirierende Veranstaltung, die bestenfalls für alteingesessene Automatisierer ein paar irritierende Momente bereithielt. Denn eines scheint unausweichlich: Die IT dringt mit ihren Konzepten in die Welt der OT ein. Zwar müssen auch IT-ler lernen, mit Anforderungen wie Echtzeitfähigkeit und funktionaler Sicherheit zurecht zu kommen, die Lernkurve für zukünftige Projekte dürfte aber auf Seiten der PLC-Profis steiler sein. Das ist nicht unbedingt schlimm. Denn wir alle wollen ja Maschinenbau und Automatisierungstechnik zukunftsfähig weiterentwickeln. Da müssen auch mal Disruptionen ran. Wie heißt es so schön? Das elektrische Licht wurde auch nicht durch die kontinuierliche Weiterentwicklung der Kerze erfunden.