Wie greifen der digitale Zwilling, die Verwaltungsschale (AAS), der Digital Product Pass und das digitale Typenschild ineinander bzw. an welchen Stellen unterscheiden sie sich?
Aurel Buda, Turck: Der Digitale Produktpass ist eine Sammlung verschiedener Informationsmodelle, zu denen das digitale Typenschild gehört. Die Asset Administration Shell, kurz AAS, stellt dabei die standardisierte Struktur und Schnittstellen, um auf diesen Informationen entlang des Lebenszyklus zu arbeiten. Erst dadurch wird der digitale Zwilling für alle herstellerübergreifend nutzbar.
Dr. Heiko Stichweh, Lenze: Ab 2027 wird jedes Produkt in der EU – seien es Textilien, Konsumartikel oder auch Motoren oder Umrichter – einen digitalen Produktpass, kurz DPP, haben, der über einen QR-Code zugänglich ist. Dieser stellt strukturierte Informationen zu Ökodesign-Anforderungen wie dem Product Carbon Footprint (PCF) und Recyclinghinweisen, aber auch Informationen wie das digitale Typenschild bereit.
Die technische Umsetzung des DPP ist technologie-neutral, wobei die Verwaltungsschale eine mögliche Implementierung darstellt. Diese ermöglicht den sicheren, strukturierten und standardisierten Datenaustausch über das gesamte Wertschöpfungsnetzwerk hinweg. Sie schafft eine herstellerübergreifende Interoperabilität durch Verwendung von Semantik sowie semantischen Identifiern und bildet Daten über den gesamten Lebenszyklus ab. Ein Beispiel ist der ZVEI-Showcase PCF@ControlCabinet, der zeigt, wie der PCF eines Schaltschrankes mit Komponenten verschiedener Hersteller berechnet werden kann.
Ein digitaler Zwilling (DZ) ist eine digitale Repräsentation eines Objekts aus der realen Welt, die einen Datenaustausch und Prozessoptimierung ermöglicht. Ein DZ ist mehr als Daten: er kann auch Algorithmen enthalten, die das Verhalten des realen Gegenstücks beschreiben. Es gibt verschiedene Formen digitaler Zwillinge, wobei die Verwaltungsschale die Bündelung einer Vielzahl von relevanten Informationen für unterschiedliche Use Cases in strukturierter Form ermöglicht und somit als Umsetzung für Industrie 4.0 dient.
Rainer Brehm, Siemens: In den nächsten Jahren sehen wir eine Vielzahl an europäischen Regularien im Bereich der Nachhaltigkeit, welche die Transparenz eines Produktes über die gesamte Wertschöpfungskette und somit einen Digitalen Produktpass erfordern. Die Verwaltungsschale ist derzeit der fortschrittlichste Standard, um den nahtlosen Austausch von Daten des digitalen Zwillings entlang der gesamten Wertschöpfungskette abzubilden. Das digitale Typenschild (Digital Nameplate – DNP) stellt damit einen Aspekt (AAS-Submodel) von vielen dar, welches über die AAS semantisch modelliert und beschrieben werden kann.
Mit dem DPP4.0 Konzept des ZVEI existiert ein ausgearbeitetes und genormtes Lösungskonzept, um den DPP in der Praxis zu implementieren. Das DPP4.0 Konzept besteht aus zwei Bestandteilen: die eindeutige Identifizierung eines Objekts – der sogenannte ID-Link gemäß IEC61406 – und die Beschreibung des Objekts mittels AAS. Erste Verwaltungsschalen unserer Fabrikautomatisierungsprodukte auf Basis von DPP4.0 stellt Siemens seinen Kunden bereits zur Verfügung.
Als Gründungsmitglied der Industrial Digital Twin Association IDTA, welche die Standardisierung und zunehmende Industrialisierung der AAS vorantreibt, unterstützt Siemens die Weiterentwicklung der AAS. Zudem ist die AAS bei zukunftsweisenden Initiativen, wie Manufacturing-X und deren Projekt Factory-X, welches von Siemens im Co-Konsortiallead geleitet wird, gesetzt. Die AAS wird hierbei in allen Anwendungsfällen als Teil der Basisdienste und -technologien von Factory-X angewandt. Innerhalb von Factory-X treibt Siemens zusammen mit den weltweiten Initiativen und Verbänden die Internationalisierung der AAS voran.
Christine Beck-Sablonski, Schneider Electric: Ein Ziel von Industrie 4.0 ist die intelligente Vernetzung von Maschinen und Prozessen in der Produktion durch den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnik zum Datenaustausch, die zu einer Wertschöpfung führen. Die Asset Administration Shell ist das Mittel, um standardisierte Informationen für jedes Asset herstellerübergreifend digital zu transportieren, ohne die Datenhoheit zu verlieren. So entsteht der digitale Zwilling eines Produktes auf der Basis von Daten, die alle relevanten Merkmale, wie Abmessungen, Anschlussdaten oder Produktnummer, abbilden können. Die AAS ist als Summe sogenannter Teilmodelle konzipiert. Ein Teilmodell – oft auch als Submodell bezeichnet – ist das digitale Typenschild, wie es in der EU-Maschinenrichtlinie 2006/42/EG, jetzt EU-Maschinenverordnung 2023/1230, gültig ab Januar 2027, definiert ist. Eine Kombination von Teilmodellen rund um den CO2-Fußabdruck, das Typenschild, erweiterte technische Informationen und Recyclinginformationen stellen Möglichkeiten dar, die zukünftigen Anforderungen des Digitalen Produktpasses zu erfüllen. Dabei handelt es sich um eine Schlüsselkomponente auf dem Weg zu einer Kreislaufwirtschaft über den gesamten Produktlebenszyklus.
Dr. Georg Wünsch, Machineering: Die Grundidee ist vielversprechend und bietet zweifellos großes Potenzial. Allerdings muss das Konzept noch weiter gedacht werden. Wir sind überzeugt, dass es in Bereichen wie Service, Vertrieb und Kundenzufriedenheit einen klaren Nutzen bieten wird. Allerdings stellt die Frage der Marktreife noch immer ein großes Hindernis dar. Die Umsetzung ist mit einem enormen Aufwand verbunden und bestehende Standards hemmen bekanntlich jede Innovation. Historische Beispiele zeigen, dass die Einführung solcher Standards oft schwierig ist und zu Frustrationen führen kann. Auch wenn sie theoretisch sinnvoll erscheinen, ist ihre praktische Umsetzung häufig problematisch. Derzeit sind weltweit etwa 60.000 Menschen in diesem Bereich tätig, und es ist unrealistisch zu erwarten, dass alle nach einem einheitlichen Standard arbeiten werden. Dennoch sind wir bereit, uns an der Weiterentwicklung dieses Konzepts zu beteiligen und einen Beitrag zu leisten, um mögliche Lösungen zu finden und die Herausforderungen zu bewältigen.
Wie marktreif sind die verschiedenen Ansätze bzw. Konzepte bereits? Welche Vorteile kann der (mittelständische) Anwender heute schon nutzen?
Aurel Buda, Turck: Das digitale Typenschild ist für viele Produkte bereits nutzbar. In den meisten Fällen gelangt der Anwender über einen 2D-Code an die Produktinformationen. Das spart heute schon Zeit und sorgt im Sinne des European Green Deal für mehr Nachhaltigkeit durch weniger Papier. Weitere Vorteile digitaler Produktpässe und digitaler Zwillinge werden sich mit der Weiterentwicklung in den kommenden Jahren zeigen. Wir erwarten in den nächsten Jahren weitreichende Mehrwerte in den Bereichen Nachhaltigkeit, Qualität, Wartungsunterstützung, Cyber Security und Anlagen-Engineering.
Heiko Stichweh, Lenze: Mit der Verabschiedung der neuen Ökodesign-Verordnung 2024 im Rahmen des europäischen Green Deals wird der Digitale Produktpass ab 2027 kommen! Die genauen Nachhaltigkeitsinformationen werden in den nächsten Jahren über delegierte Rechtsakte konkretisiert.
Die Verwaltungsschale ist technologisch weit gereift und erfüllt Marktanforderungen. Die Standardisierung und Spezifikation von Teilmodellen der AAS schreitet voran, und erste Unternehmen bieten bereits digitale Produktinformationen in Form der AAS an.
Der Nutzen des digitalen Datenaustauschs über das Wertschöpfungsnetzwerk und der Digitalisierung interner Prozesse wird in den kommenden Jahren zunehmend wichtiger. Ich möchte zwei Beispiele für Potentiale geben: beim Onboarding neuer Zulieferer werden heute eine Vielzahl von Zulieferer-Informationen wie Adressen, Bankverbindungen, Ansprechpartner, Zertifikate oder Code of Conduct aufwändig erhoben und dann händisch in Informationssysteme eingetragen. Das gleiche gilt für Produktdaten, die von Zulieferern kommen wie ERP-Daten, CAD-Zeichnungen, Dokumentationen und Zertifikate. Ein digitaler Austausch dieser Produkt- oder Unternehmensdaten wird in naher Zukunft die Übertragung von Produkt- oder Unternehmensinformationen in ERP- oder anderen IT-Systemen wie PLM wesentlich erleichtern, die Qualität der Daten sehr stark steigern und unsere Prozesse beschleunigen.
Christine Beck-Sablonski, Schneider Electric: Der erste Praxistest wird die Einführung des Batteriepasses sein, der ab Februar 2027 erforderlich ist. Mit der Aktualisierung der Batterieverordnung wird jede Industrie- oder Elektrofahrzeugbatterie auf dem EU-Markt mit einer Kapazität von mehr als 2kWh einen Batteriepass benötigen. Das bedeutet, dass unabhängig von der Herkunft der Batterie ein Batteriepass erforderlich ist, um diese auf dem europäischen Markt in Umlauf zu bringen. Es liegt in der Verantwortung desjenigen, der die Batterie in Verkehr bringt, sicherzustellen, dass alle erforderlichen Daten in den digitalen Datensatz eingegeben werden und dass diese korrekt und aktuell sind.
Wir engagieren uns derzeit in europäischen Projekten wie Cirpass-2 und Battwin, um nur zwei zu nennen, die sich nicht allein auf Deutschland beschränken, sondern die gesamte europäische Landschaft abdecken, um für DPP gerüstet zu sein. Unser Engagement in der IDTA, die die herstellerübergreifende Zusammenarbeit bei der Entwicklung relevanter Teil- bzw. Submodelle fördert, ist der Schlüssel, um für DPP bereit zu sein. Der Vorteil der ASS ist die Flexibilität, die durch die Anpassungsfähigkeit der gemeinsam genutzten Teilmodelle ermöglicht wird. Sie erfüllen die Spezifika des DPP der jeweiligen Branche und bieten darüber hinaus technische Interoperabilität über den gesamten Lebenszyklus sowie Offenheit für Kommunikationsgateways wie OPC UA.
Georg Wünsch, Machineering: Der Produktpass ist derzeit leider nur rudimentär vorhanden und deckt bei unseren Simulationen lediglich einen kleinen Bereich ab. Da ist noch viel Luft nach oben. Für Unternehmen, die sich mit diesem Thema noch nicht befasst haben, bietet er jedoch einen guten Einstieg. Auch die Verwaltungsschale bringt aktuell noch keinen großen Nutzen, da sie in ihrer vollständigen Form noch nicht verfügbar ist. Dennoch funktionieren bereits einige Elemente bzw. Standards, wie zum Beispiel Automation SL zum Laden von Daten oder auch FMU/FMI, einwandfrei. Diese setzen wir bei machineering bereits erfolgreich ein. Wir nutzen darüber hinaus weitere Standards wie Step, native CAD-Daten und DLLs, um unsere Prozesse zu unterstützen und die Interoperabilität zu gewährleisten.
Rainer Brehm, Siemens: Wie Siemens stellen bereits eine Vielzahl an Unternehmen in der Automatisierungstechnik erste Verwaltungsschalen für ihre Kunden bereit. Aufgrund der einheitlichen Semantik kann jeder Anwender die AAS direkt nutzen. Zudem sind Softwarelösungen verfügbar, eigene Produktdaten zur AAS zu konvertieren und standardisiert mit Kunden auszutauschen.
In Zukunft lassen sich mittels DPP4.0 und AAS auch Software-Services an Produkte anknüpfen. Über Manufacturing-X und in Verbänden, wie beispielsweise VDMA, ZVEI können auch mittelständische Anwender an der Weiterentwicklung der AAS teilhaben.
Welche Schritte sind als nächstes geplant und wie sieht die weitere Roadmap aus?
Heiko Stichweh, Lenze: Ich empfehle mittelständischen Unternehmen, sich den Herausforderungen zu stellen und – mit Ruhe und Gründlichkeit – Klarheit über Anforderungen, Chancen und IT-Architekturen zu gewinnen. Verbände wie der VDMA, ZVEI und Organisationen wie die IDTA bieten hilfreiche Informationen, Leitfäden sowie sinnvolle Use-Cases. Unternehmen sind gut beraten, sich über digitale Datenräume zu informieren, wie sie in der BMWK-Initiative „Manufacturing X“ oder dem Leuchtturmprojekt „Factory X“ aktuell entstehen. Auch Partner im Wertschöpfungsnetzwerk, wie Lenze, unterstützen mit Information und praktischen Beispielen bei der Transformation.
Lenze ist in vielen Organisationen wie der ITDA, der Industry-4.0-Alliance oder der Initiative Mittelstand aktiv dabei, notwendige Standards voranzutreiben.
Georg Wünsch, Machineering: Wir haben mehrere interessante Anknüpfungspunkte, insbesondere im Hinblick auf unseren machineering store für Simulationsmodelle. Informationen aus der Verwaltungsschale sind hier unerlässlich, um den Shop automatisiert zu pflegen. Dennoch müssen wir den Testaufwand berücksichtigen. Die Automatisierung würde also nur einen kleinen Teil der Arbeit abdecken. Auch wenn FMI das Laden der Simulationsmodelle vereinfacht, sind individuelle Wrapper dennoch erforderlich. Ein weiteres Problem ist, dass Erwartung und tatsächliche Lieferung oft nicht übereinstimmen – sowohl bei den Komponenten als auch bei der Firmware. Daher müssen weiterhin One-to-One-Tests durchgeführt werden. Wir begrüßen diesen Ansatz, da er die Zusammenarbeit mit unseren Automatisierungspartnern erheblich erleichtern wird. Wir stellen unseren Automatisierungspartnern unser Vendor Package zur Verfügung, mit dem sie ihre Komponenten selbstverwaltet im machineerign store als Modell präsentieren können – unabhängig davon, ob es sich um FMI- oder DLL-basierte Modelle handelt. Derzeit ist der manuelle Aufwand für das Einpflegen von Texten und Bildern relativ hoch. Daher muss ein einheitliches Datenformat zum Austausch her. Wir werden sehen, ob die Verwaltungsschale dafür geeignet ist.
Christine Beck-Sablonski, Schneider Electric: Der Standardisierungsprozess der AAS auf internationaler Ebene ist eng mit dem derzeit laufenden Regulierungsprozess in der EU verknüpft. In der Tat steht die Ausarbeitung der EU-Normen für den digitalen Produktpass, die technische Leitlinien für die Verwendung von Identifikatoren, den Datenzugriff über Datenträger und die semantische sowie organisatorische Interoperabilität enthalten, unter erheblichem Zeitdruck, da sie im Dezember 2025 veröffentlicht und harmonisiert sein müssen, damit die Industrie genügend Zeit hat, sich auf die Anwendung in Bezug auf Batterien bis Februar 2027 vorzubereiten. Die AAS bietet sich als offene und interoperable Lösung für einen DPP 4.0 an. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, dass ihre internationalen Standards als Referenz anerkannt werden. Parallel zum Regulierungsprozess laufen Projekte im Rahmen der Initiativen Manufacturing X und International Manufacturing X mit Data4IndustryX, um die besten Möglichkeiten für Interoperabilität und Konnektivität zu definieren. Im ZVEI wurde die Arbeitsgruppe DPP 4.0 gegründet, die sich mit zusätzlichen digitalen Servicemodellen als Teil eines neuen Geschäftsmodells beschäftigt.
Rainer Brehm, Siemens: Wir unterstützen Kunden bei der Beschleunigung ihrer digitalen Transformation. Deshalb wurde Siemens Xcelerator als industrielles Ökosystem, das auf den Prinzipien der Interoperabilität, Flexibilität und Offenheit basiert, geschaffen. Als zukunftsweisende Technologie implementiert die AAS alle Prinzipien von Siemens Xcelerator. Siemens arbeitet intensiv an der Integration der AAS in eigene Softwareprodukte. Die neuesten AAS-Entwicklungen von Siemens können sich Besucher auf der SPS-Messe diesen November in Nürnberg anschauen. Auf dem Siemens-Stand in Halle 11 zeigt das Unternehmen unter anderem die Softwareintegration der AAS in das TIA Portal, in Teamcenter, Mendix, der Industrial Edge Applikation Industrial Information Hub, und präsentiert spezifische Lösungen zum DPP, wie den Siemens Battery Passport.
Aurel Buda, Turck: Wir haben das Potenzial digitaler Zwillinge früh erkannt und Turck ist Gründungsmitglied der Industrial Digital Twin Assoziation. Viele Produktfamilien werden schon seit Jahren mit 2D-Codes für den Zugriff auf digitale Produktinformationen ausgeliefert. Den digitalen Produktpass, die Compliance zum Cyber Resilience Act sowie den Ausbau der digitalen Dienstleistungen und Softwarelösungen haben wir uns für die nächsten Jahre auf die Fahne geschrieben.