
So unscheinbar die Etikettiermaschinen von Bausch+Ströbel außen erscheinen, so komplex ist ihr Räderwerk innen. Der Hersteller von Abfüll- und Verpackungsanlagen für die Pharma- und Kosmetikindustrie testet daher das mechatronische Verhalten in einem digitalen Zwilling, bevor die Maschinen die Produktion verlassen. Darin drehen sich die Zahnräder geradeso, wie sie es später in der realen Welt tun sollen. Würden mechanische Komponenten miteinander kollidieren, fällt das hier sofort auf.
Die Herausforderung dabei: Bausch+Ströbel bezieht mechanische, elektrische und pneumatische Komponenten von verschiedenen Herstellern. Damit die virtuelle Inbetriebnahme realistisch gelingt, braucht der digitale Zwilling alle Informationen über diese Einzelteile – Maße, Material, Eigenschaften und vieles mehr. Bisher musste der Maschinenbauer diese Infos mühsam zusammensuchen, etwa auf Webseiten oder über die direkte Kommunikation mit dem Hersteller, und teilweise händisch in die Engineeringtools eingeben. Und wenn der Zulieferer des Teils etwas daran änderte, bekam der Kunde mitunter nichts davon mit. Bisher war kein bestimmtes Format vorgegeben, in der Lieferanten ihre Daten liefern.

Standard wird zur Norm
Die Verwaltungsschale (englisch: Asset Administration Shell, kurz AAS) überwindet diese Hürden und soll sich als Drehscheibe für den Datenaustausch etablieren. Der Konsortialstandard besteht aus mehreren Teilen und bildet die Grundlage für die Norm IEC63278 sowie für die Regulierung in der EU. Wichtige Beteiligte bei Normierung und Regulierung sind auch in der Organisation IDTA (Industrial Digital Twin Association) aktiv. Die aktive Beteiligung der Mitgliedsunternehmen als Industriepartner in den IDTA-Arbeitsgruppen soll für breite Akzeptanz des Standards sowie für eine Qualitätsprüfung sorgen.
Das ist wichtig, weil im Design und Engineering eines Produkts Entscheidungen getroffen werden, die den gesamten Lebenszyklus des Produkts betreffen, über die Nutzung bis zur Reparatur und Recycling. 80 Prozent der Eigenschaften werden in dieser frühen Phase definiert. Das hat auch erhebliche Auswirkungen auf den CO2-Fußabdruck. Die AAS enthält jeden noch so kleinen Beitrag zur CO2-Emission eines Einzelteils, die sich im Endprodukt bei der Herstellung und später im Betrieb aufsummiert.
Im Use-Case bei Bausch+Ströbel haben die beteiligten Seiten gezeigt, wie die Daten aus den Verwaltungsschalen der Zulieferer unmittelbar in das Engineering einer Etikettiermaschine einfließen. Der Maschinenbauer erstellt damit unter anderem Szenarien für die virtuelle Inbetriebnahme, also eine Simulation der Mechatronik, in der sich frühzeitig überprüfen lässt, ob etwa bewegliche Teile zusammenstoßen, ob das SPS-Programm reibungslos funktioniert oder ob ein optischer Sensor den korrekten Erfassungsbereich hat. Der Zulieferer kann die Verwaltungsschale ohne Zusatzaufwand direkt aus dem PLM-System erzeugen. Der Maschinenbauer wiederum kann die Verwaltungsschalen seiner Zulieferer direkt im PLM integrieren.
Änderungen automatisch übernehmen
Bei Bausch+Ströbel wurde eine weitere Funktion ausprobiert: die Product Change Notification. Ändert sich etwas an dem Teil, wird diese Änderung automatisch über die AAS an das PLM-System übermittelt. Die Zeitersparnis beträgt bis zu 79 Prozent, außerdem kann sich der Ingenieur beim Maschinenbauer darauf verlassen, dass er keine Änderung bei einem verbauten Teil übersieht.
Ein weiterer Use-Case wurde bei Engel evaluiert. Der österreichische Hersteller von Spritzgussmaschinen hat das Konzept erweitert, um mehrere AAS-Datenräume verschiedener Zulieferer einbinden zu können. Ein AAS-Datenraum ist einfach gesagt ein Speicherort bzw. Server, in dem die Verwaltungsschalen eines Unternehmens abgelegt und bei Bedarf zugänglich sind. Der Entwickler kann zugleich auf die verschiedenen Datenräume respektive Verwaltungsschalen zugreifen, die für seine Konstruktion notwendig sind. Mit einem Mausklick kann er dann alle notwendigen Engineering-Daten herunterladen, im PLM-System integrieren und für die weiteren Engineering Tools verwenden. Außerdem stellt dies sicher, dass über die AAS Produktänderungen unmittelbar in im PLM nachvollziehbar angezeigt werden.
Erhebliche Zeitersparnis
Die Zeitersparnis ist erheblich. Bei Bausch+Ströbel dauerte die Auswahl einer passenden komplexen Komponente sowie die Datensuche und -aufbereitung bisher 30 Tage oder mehr. Ein Grund dafür ist z.B., dass ein Großteil der Zulieferer aktuell noch keine Verhaltensmodelle für ihre Teile anbieten. Immer wieder müssen Ingenieure nach notwendigen Daten im Internet suchen oder bei den Kunden Ansprechpartner anfragen. Wenn die Daten in der Verwaltungsschale vollständig sind und an das PLM angebunden sind, bedeutet das im Engineering einen erheblichen Zeitvorteil: Dann sind es bei Bausch+Ströbel nur noch zehn Tage, wie der Demonstrator gezeigt hat. „Das Ändern, Suchen und Vervollständigen der Daten entfällt, so dass wir direkt mit wertschöpfenden Tätigkeiten beginnen können“, sagt Erich Bauer, Leiter Forschung & Entwicklung bei Bausch+Ströbel. „Durch den AAS-Standard sind die Daten auch von höherer Qualität, weil wir sie etwa nicht mehr umformatieren müssen.“
Im Use-Case bei Engel würde sich der Aufwand von durchschnittlich 28,5 Tagen auf 18 Tage reduzieren. Ingenieure sind heute noch dazu gezwungen einen erheblichen Teil ihrer Arbeitszeit mit der Suche, Identifikation, Strukturierung und Formatierung von Daten für das Engineering zu verbringen. Die AAS hat dabei das Potential, an dieser Stelle spürbar zu entlasten, und mehr Zeit für die eigentlichen, wertschöpfenden Aufgaben zu schaffen.