Die Open Industry 4.0 Alliance wurde 2019 in Hannover gegründet, was waren Ihre Erfahrungen und Erkenntnisse, wenn Sie heute sagen, die Allianz ist ‚erwachsen geworden‘?
Dr. Christian Liedtke: Natürlich mussten wir auch unser Lehrgeld zahlen. Dennoch hat sich die Allianz seit ihrer Gründung rasant weiterentwickelt, ist heute auf mehr als 100 Mitgliedsunternehmen angewachsen und etabliert sich zunehmend in der europäischen Industrie als ‚Praktiker- und Umsetzungsallianz‘ – wir sind also, wie Sie eingangs erwähnt haben erwachsen geworden. Die große Erkenntnis seit unseren Anfängen? Ich denke, dass die Digitalisierung, insbesondere der Industrie, immer noch eine große Herausforderung darstellt und bei unterschiedlichen Branchen und Firmengrößen unterschiedlich verstanden wird. Ob vom ‚Fax zum Excel‘ bis hin zu ‚unternehmensübergreifender Vernetzung‘, das Spielfeld der Industrie 4.0 ist sehr breit gefächert.
Welche Fortschritte wurden bei der praktischen Umsetzung von Industrie-4.0-Initiativen erzielt? Wie ist der Status quo?
Der Praxisbezug war für die Allianz von Beginn an essenziell. Wir verstehen uns heute noch als Community der Praktiker und Helfer bei der Umsetzung von Digitalisierungsinitiativen. Daher bieten wir heute auch ein Ökosystem marktführender Unternehmen, das sich für die Schaffung kompatibler Lösungen und Dienste einsetzt. Wir wollen so die europäische und deutsche Industrie bei der digitalen Transformation unterstützen. Diesen Ansatz setzen wir daher auch in unseren technischen und branchenbezogenen Arbeitsgruppen über ganz konkrete Projekte um. Wir definieren keine neuen Standards, sondern arbeiten mit den Standardisierungsgremien zusammen, um die Standards in der Praxis zu implementieren und so den produzierenden Unternehmen eine Umsetzungshilfe zu bieten. Wichtig bei der praktischen Umsetzung ist uns, dass wir hier den Gedanken einer Allianz leben. So binden wir auch unterschiedliche Softwarelösungen von Mitgliedern und deren Kunden neutral und vorwettbewerblich in den Gesamtprozess ein. Auch Nicht-Mitglieder unterstützen wir, wenn sie als Kunde eines Allianzmitglieds ihr Digitalisierungsvorhaben auf den Tisch bringen.
Können Sie uns mehr über die organisatorische Neuausrichtung in diesem Jahr berichten?
Ende des vergangenen Jahres wurde der Vorstand der Open Industry 4.0 Alliance neu aufgestellt. Seither bin ich für die strategischen Allianzen bei Kuka verantwortlich und übernehme die Funktion als Chairman of the Board bei der Allianz. Hans Huber, Managing Director Industrial Internet of Things bei Endress+Hauser, und Dr. Marius Grathwohl, Vice President Digital Products and Transformation bei Multivac unterstützen mich als Teil des Executive Boards der Allianz. Ein weiterer Baustein hierfür ist die Gründung der Open Industry 4.0 Implementation GmbH. Die neue Servicegesellschaft beschäftigt heute acht vollzeitangestellte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Mit der Neuaufstellung treibt die Allianz die Festigung ihrer Struktur voran und bereitet den Boden für ihre Internationalisierung.
Wie kann die praktische Umsetzung trotz der aktuellen Herausforderungen gelingen? Gibt es bewährte Ansätze oder Best Practices?
Das zentrale Stichwort ist Zusammenarbeit, wenn es um die praktische Umsetzung geht. Nahezu jedes Unternehmen bietet heute neben ihren Produkten auch Softwarelösungen an. Dazu kommen die Lösungen verschiedener Softwareanbieter und -Dienstleister. Doch all diese Lösungen sind eher auf einen isolierten Ansatz und weniger auf ein interoperables Zusammenspiel hin optimiert. Das ist auch logisch, denn als die Firmen mit den Entwicklungen ihrer Lösungen begonnen haben, gab es noch keine durchgängigen Industriestandards, weil sich diese jetzt erst nach und nach durchsetzen und Unternehmen quasi ihre eigenen Standards definieren müssen. Da das echte Potenzial der Industrie 4.0 aber zwischen den einzelnen Prozessen und Maschinen liegt, muss nun diese neue Art der Zusammenarbeit, die wir als Interoperabilität bezeichnen, erst geschaffen werden. Das versuchen wir in Projekten praktisch umzusetzen und so einen Handlungsleitfaden zu bieten, wie definierte Use Cases mit Industriestandards unter Einbeziehung mehrerer Unternehmen gelöst werden können.
Wie unterstützen Sie Ihre Mitglieder dabei?
Als Allianz orchestrieren wir die Zusammenarbeit der Unternehmen, das bedeutet wir ermitteln in den Industriearbeitsgruppen welche Herausforderungen für die jeweiligen Industrien dominieren und wie diesen begegnet werden muss. Aus diesen Anforderungen wird in den Technischen Arbeitsgruppen eine Strategie zur Umsetzung mit den bestehenden Industriestandards – vor allem auch unserer Partnerorganisationen – erarbeitet. Fehlen gewisse Elemente, beispielsweise ein Softwarekonnektor oder das Submodell einer Verwaltungsschale, nehmen wir auch das Geld in die Hand, um im Sinne unserer Mitglieder die fehlenden Elemente erstellen zu lassen. Das kommt dann wiederum allen Allianzmitgliedern zugute. Last but not least dokumentieren wir die Erfahrungen aus der Umsetzung in Form von Guidelines oder Handlungsanweisungen, so dass alle Mitglieder von den Erfahrungen profitieren können.
Nun beschäftigen sich weitere Gremien und Verbände ebenfalls mit dem Thema Industrie 4.0. Was unterscheidet die Allianz von diesen?
Ein wesentlicher Unterschied ist, dass die Open Industry 4.0 Alliance viele Branchen und viele Disziplinen abdecken kann. Nehmen wir das Thema Schweißroboter. Der Hersteller gibt zwar Temperaturbereiche an, in denen die Anlage optimal betrieben wird, aber der Nutzer möchte dies mit der aktuellen Temperatur in seiner Werkshalle verknüpft wissen. Das erfordert die Zusammenarbeit mit Partnern, etwa im Gebäudemanagement, die der Hersteller von Schweißrobotern bisher nicht kennt. Innerhalb der Allianz kann er diese Partner finden – oder passende Best-Practice-Beispiele. Und dies ist vielleicht der entscheidende Punkt, den ich anfangs schon erläutert habe: Wir sind die Implementierer, wir setzen Dinge auf der Basis bestehender Standards wirklich in die Praxis um.
Wie sieht die Zusammenarbeit mit anderen Gremien und Verbänden derzeit aus und welche Bedeutung hat sie für die Allianz?
Wir sehen eine enge Zusammenarbeit mit den Fach- und Branchenorganisationen als elementar und wichtig an. Da ist zuvorderst der VDMA zu nennen und aktuell stehen wir auch mit dem ZVEI in engem Austausch. Des Weiteren besteht mit spezielleren Gremien, wie der Industrial Digital Twin Association IDTA, eine Absichtserklärung. Hier nutzen wir etwa deren Arbeit zur Standardisierung von sogenannten Submodellen der Asset Administration Shell. Gemeinsame Messeauftritte gehören ebenfalls dazu. Die Zusammenarbeit mit Gremien, Verbänden und anderen Allianzen ist Teil unserer Strategie. Das spielt dann auch bei unserer Internationalisierung eine wichtige Rolle. Wir wollen die enge und erfolgreiche Zusammenarbeit auf Verbands- und Gremienebene, wie wir sie in Deutschland aufgezogen haben, international fortsetzen. Aktuelle Beispiele hierfür sind die Partnerschaften mit FHI in den Niederlanden oder DIRA in Dänemark.
Was sagen Sie potenziellen Mitgliedern, warum sollten Unternehmen teilnehmen und wie können sie von der Zusammenarbeit profitieren?
Potenzielle neue Mitglieder profitieren davon, dass ihr Unternehmen von der anfänglichen Idee für ein Projekt bis zur konkreten Umsetzung die gesamte Validierungsstrecke vorwettbewerblich mit Experten aus anderen Unternehmen angehen kann. Viele Interessenten wollen ein konkretes Projekt umsetzen und da sind sie in unserer Umsetzungsallianz an der richtigen Adresse. Die Allianz bietet vor allem für mittelständische Mitglieder eine sehr umfangreiche Zutatenliste, um ohne großen Aufwand auf konkretes Wissen über Branchen, Technologie und Standards zuzugreifen. Denn eines ist klar – nur mit vorhandenem Praxiswissen, einem passenden Werkzeugkasten und im Verbund lassen sich Industrie-4.0-Projekte dann auch tatsächlich realisieren. Ein weiterer Vorteil: Die Endkunden unserer Mitglieder binden wir gerne als Sparringspartner mit ein, auch als Nicht-Mitglieder. Denn es gibt auch erfahrene Ansprechpartner, die gerne weiterhelfen, Anwendungs- und Umsetzungsbeispiele aus anderen Industrien zu liefern, die sich auf einen Anwendungsfall übertragen lassen.
Was sind Ihre aktuellen Themenschwerpunkte?
Aktueller Themenschwerpunkt ist für uns wie bereits erwähnt die Internationalisierung der Allianz. Dabei fokussieren wir uns erstmal auf Europa. In den Niederlanden hatten wir schon einen erfolgreichen Launch; jetzt gehen wir Dänemark, Belgien und Italien an. Abgesehen von der weiteren Internationalisierung, wollen wir auch die Zusammenarbeit mit deutschen Regierungsorganisationen, Vereinen und Verbänden stärken. Es wird so einiges auf uns zukommen – national wie international. Ob EU Data Act, resiliente Lieferketten, die Reduzierung des CO2-Fußabdrucks oder die Anforderungen an die Kreislaufwirtschaft – die drängendsten Themen für Industrie und Wirtschaft können nur gemeinsam, international und im Verbund adressiert werden.
Wie planen Sie die weitere Internationalisierung?
Im vergangenen Jahr haben wir mit den Niederlanden begonnen. Wir arbeiten bei unserer Internationalisierung nach einer standardisierten Vorgehensweise, die wir mit einem Beratungsunternehmen zusammen ausgearbeitet haben. Im Rahmen dieser Strategie suchen wir die Zusammenarbeit mit den nationalen Fach- und Branchenorganisationen. Die Internationalisierungsstrategie geschieht durch Local Hubs, die in den einzelnen Ländern eine lokale Ausprägung der horizontalen und vertikalen Arbeitsorganisation der Allianz bilden. Wir suchen bewusst Partner, die die Strukturen vor Ort kennen oder etwa die Forschung betreiben, und die den Zugang zu Fördermitteln haben. Wir sprechen mit diesen Organisationen über Showcases und nehmen an Messen teil. So loten wir etwa im Laufe des Jahres auch in Italien und in Dänemark im Rahmen verschiedener Events und Messen die Möglichkeiten der Allianz aus. Nicht zuletzt regen Allianzmitglieder das Engagement in bestimmten Regionen an, weil sie z.B. stark in der Automatisierungsindustrie Italiens vertreten sind oder, um mit Finnland ein weiteres Land zu nennen, weil sie dort Niederlassungen sowie starke Partner haben. Inzwischen werden wir auch schon von Unternehmen aus anderen Ländern aktiv angesprochen wie z.B. aus Belgien. Unser Fokus liegt vorläufig auf Europa, obwohl wir bereits jetzt auch Mitglieder aus Asien und in Amerika haben.
Welche grundlegenden Probleme müssen vor dem unternehmensübergreifenden Daten- und Informationsaustausch gelöst werden und wie kann die Allianz bei der Konnektivität in Fabrikhallen helfen?
Bevor wir über Themen wie unternehmensübergreifenden Daten- und Informationsaustausch reden können, Stichwort Data Spaces, müssen wir grundlegendere Dinge lösen. So ist z.B. immer noch das größte Problem in der Fabrikhalle die Konnektivität und strukturierte Bereitstellung von Daten. Jeder redet über Resilienz und Datenräume. Aber ohne Connectivity in der Fabrik macht dies keinen Sinn. Mit Cases zur Connectivity haben wir vor drei Jahren in der Allianz begonnen. Wir liefern konkrete Buildingblocks, die mittels Sensoren und Aktoren bei den Maschinen die Daten sammeln. Diese werden über sichere Verbindungen dann in die Clouds geliefert. Dies haben wir schon mehrfach angewandt und können hier unser Wissen und unsere Cases innerhalb der Allianz oder extern teilen.
Wie positioniert sich die Allianz in Bezug auf industriepolitische Initiativen wie Gaia-X, Catena-X und Manufacturing-X und wie bringt sie sich aktiv ein?
Ob Gaia-, Catena- oder Manufacturing-X – wir sehen in allen der derzeitigen X-Initiativen enormes Potential, um die Digitalisierung der Wirtschaft in Deutschland und Europa branchenübergreifend auf ein neues Niveau zu heben. Viele unserer Mitglieder arbeiten beispielsweise bei Gaia-X in den entsprechenden, thematisch oder technisch orientierten sowie branchenspezifischen Workgroups mit. Die Idee, über die X-Initiativen ein Datenökosystem vom Standpunkt eines Datenproduzenten oder Dateneigentümers und -anwenders als Souverän über diese Daten zu denken und einen offenen, einheitlichen Zugang zu einem Data Space zu schaffen ist ganz im Sinne der Allianz. Auch bei Manufacturing-X bringen wir uns aktiv ein, genauso wie unsere Mitglieder. So haben wir Anfang des Jahres z.B. an einem großen Workshop des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz BMWK teilgenommen. Dort haben wir etwa an Ausschreibungskriterien für Manufacturing-X mitgearbeitet. Das BMWK will ja auch bestehende Strukturen und Standards mit einbinden und ist deshalb auch explizit auf uns als Praktiker-Allianz zugegangen. Der Wunsch kommt aus der Politik, dass wir uns hier als neutrale Instanz und mit unserer branchenübergreifenden Industrieexpertise einbringen. Zudem können wir bestehende Communities und Konsortien miteinander verbinden, egal ob in Deutschland oder zunehmend international.
Welche globalen Herausforderungen, wie Lieferkettenresilienz und Nachhaltigkeit, im Zusammenhang mit Industrie 4.0 will die Allianz gemeinsam mit ihren Mitgliedsunternehmen angehen?
Wir sprechen über Industrie 4.0 als Digitalisierungsinitiative seit etwa zwölf Jahren, allerdings bisher kaum ohne Druck von außen. Jetzt aber werden viele Anforderungen an die Unternehmen herangetragen. Etwa aus der Politik, wenn die EU beispielsweise einen digitalen Produkt-Pass ins Spiel bringt oder mit dem European Data Act gemeinsame Datenräume nutzbar machen möchte. Auch fordern größere Unternehmen zunehmend von ihren Lieferanten Angaben zum CO2-Fußabdruck. Die Umsetzung dieser Anforderungen erfordert allerdings mehr als die Digitalisierung per Excelliste und USB-Stick. Jetzt aber sind wir als wirkliche Vordenker gefragt und stehen hierbei Unternehmen, Verbänden und der Politik mit unserer Expertise beratend zur Seite.