SpiraTec hat den gesamten Prozess eines Hochregallagers mit 10.000 Palettenplätzen und sieben Kränen bis ins kleinste Detail virtuell modelliert. – —Bild: SpiraTec AG Viktor Gaponenko (l.) und Michael Kasseckert (r.) sind sicher, dass ein digitaler Zwilling mehr können muss als reine Visualisierung in 3D. – Bild: SpiraTec AG Technologien, die ursprünglich aus dem Gaming-Bereich stammen, haben heute ihren festen Platz bei der virtuellen Inbetriebnahme. – Bild: SpiraTec AG https://tedo.link/dhqxfm – Bild: SpiraTec AG
Der digitale Zwilling kann mehr leisten als die reine Simulation von Anlagen und Abläufen. Wie nutzt SpiraTec die virtuellen Modelle?
Michael Kasseckert: Wir legen unseren Fokus auf die virtuelle Inbetriebnahme und da reichen Ablaufsimulationen einfach nicht aus. Um das industrielle Verhalten von Maschinen und Anlagen abzubilden, gehen wir viele Schritte weiter bis hinunter zur Feldebene. Unsere virtuellen Modelle unterscheiden sich also grundlegend von einer reinen Visualisierung in 3D. Mit unserem Ansatz ermöglichen wir eine direkte Kopplung zu realen Steuerungssystemen. Durch die Verbindung bis hin zur Sensorik und Antriebstechnologie der Anlage bieten wir eine realitätsnahe Testumgebung, in der sich Abläufe in Echtzeit darstellen und sogar anpassen oder verändern lassen. Spannend in diesem Zusammenhang ist auch, dass obwohl wir uns also mit den Bits und Bytes der Anlage auf einem sehr hohen Detailierungsgrad beschäftigen, dennoch eine Skalierbarkeit möglich ist – das heißt auch sehr große Anlagen oder zum Beispiel eine komplette Halle eines Hochregallagers können in Echtzeit abgebildet werden.
Worin besteht die Herausforderung?
Kasseckert: Dieser Ansatz ist nur möglich, wenn man die richtigen Technologien miteinander kombiniert. Es gibt die Ebene der reinen Simulation von Abläufen – diese reicht aber nicht aus, um eine virtuelle Inbetriebnahme durchzuführen. Es muss eine zweite Ebene geschaffen werden, auf der die Steuerung der Anlage simuliert werden kann. Diese beiden Ebenen zu verbinden und miteinander sprechen zu lassen ist die Herausforderung – und hier liegt unser Knowhow. SpiraTec hat viele Jahre Erfahrung in der Umsetzung und Begleitung von virtuellen und auch realen Inbetriebnahmen sowie der Entwicklung von Verhaltensmodellen in der dafür passenden Technologieumgebung.
Auf der Ebene der Simulation kommen Technologien zum Einsatz, die ursprünglich aus dem Gaming-Bereich stammen. Hier wachsen also zwei Welten zusammen, die auf den ersten Blick sehr fremd erscheinen. Wie kann die Industrie davon profitieren?
Viktor Gaponenko: Die Gaming-Branche liefert aktuell die modernsten und besten Technologien, um 3D-Welten zu erstellen, inklusive Schatten, Texturen und Lichtreflexion. Diese Technologien sind breit verfügbar und vergleichsweise kostengünstig. Da liegt es nahe, dass die Industrie Tools wie zum Beispiel Unity nutzt, um virtuelle Modelle zu erstellen und sie damit so realistisch wie möglich wirken zu lassen. Wenn man diese technischen Möglichkeiten, die uns die Spieleentwicklung eröffnet, zur Visualisierung nutzt und sie kombiniert mit Software aus der Automatisierung wie zum Beispiel Twincat von Beckhoff, entsteht ein virtuelles Abbild der Realität. So realistisch, dass durch die Verbindung zu den SPSen eine Testumgebung entsteht, in der sich Änderungen in Echtzeit vornehmen lassen. Der Vorteil: Bevor die Anlage gebaut wird, kann die Automatisierungssoftware virtuell getestet und feinjustiert werden. Das führt zu höherer Produktivität, einer wesentlich verbesserten Softwarequalität, weniger Ausfallzeiten und geringeren Kosten.
Wie sieht das in der Praxis aus? Gibt es konkrete Projekte bei Ihnen, bei denen diese Art von digitalem Zwilling zum Einsatz kommt?
Gaponenko: Ja, wir realisieren solche Projekte schon seit mehreren Jahren. Kürzlich konnten wir ein besonders spannendes Digital-Twin-Projekt abschließen. Wir haben den gesamten Prozess eines Hochregallagers mit 10.000 Palettenplätzen und sieben Kränen bis ins kleinste Detail virtuell modelliert. Neben der Feldbus-Emulation haben wir in diesem Projekt auch Antriebssysteme, Sicherheitsmodule, RFID-Geräte und andere industrielle Verhaltensweisen simuliert. Zusammen mit zwölf virtuellen SPSen und dem angeschlossenen Warehouse Control System (WCS) ermöglichte dieser vollständige digitale Zwilling eine reibungslose virtuelle Inbetriebnahme. Die Abwicklung des Projekts erfolgte in verschiedenen Teams, die über ganz Europa verteilt, eng verzahnt zusammengearbeitet haben.
Wagen wir noch einen Blick in die Zukunft. Wo geht die technische Entwicklung hin?
Kasseckert: Wir stehen am Anfang einer neuen Ära, die im Zeichen generativer KI steht. Eher konservative Ansätze, die unsere Branche seit vielen Jahren geprägt haben, werden jetzt aufgebrochen. Jetzt gilt es, diesen Weg mitzugehen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Die Entwicklung der digitalen Zwillingstechnologie steht vor einer grundlegenden Herausforderung: Die aktuell verwendeten Digital-Twin-Produkte führen zu einer starken Anbieterbindung und einer Konzentration auf Insellösungen mit hohen Lizenzkosten, was im schlechtesten Fall die Entwicklung der Technologie einschränkt. Dies wollen wir durch den Einsatz von gut zugänglichen und bekannten Technologien auflösen.
Gibt es konkrete Pläne, wie SpiraTec vorgehen will?
Gaponenko: Uns ist es wichtig, die technologische Zukunft aktiv mitzugestalten. Aktuell sind wir in der Planungsphase einer Open-Source-Plattform rund um das Thema Open Commissioning. Ziel ist es, die bestehende Open-Source-Community zu nutzen, weiter aufzubauen und gemeinsam an neuen anbieterunabhängigen Digital-Twin-Lösungen zu arbeiten. Wie in vielen Fällen, kann auch hier die Schwarmintelligenz der Schlüssel sein. Eine offene Plattform von Ingenieuren für Ingenieure ist sicherlich ein guter Weg, um die Entwicklung schneller voranzutreiben.