An der Hochschule Kempten sind Glocken schon seit fast zwei Jahrzehnten ein Forschungsobjekt. Das dort betriebene Europäische Kompetenzzentrum für Kirchenglocken ECC-ProBell beurteilt den Zustand von Glocken sowie ihre Läutebedingungen mit Blick auf die Belastungen und die Klangqualität. Außerdem werden Schäden an Glocken und Klöppeln untersucht. Daraus erarbeiten die Fachleute des Kompetenzzentrums Reparaturkonzepte, die die Klangentfaltung läutender Glocken verbessern oder ihre Schallemissionen vermindern.
Verzicht auf IEC-Programmierung
In den Modellen für die Antriebssysteme für die Glockentests werden die jeweiligen Steuerungsaufgaben überprüft und getestet. Um das mit Hilfe von Simulink erstellte Modell dann in den Industrial Drive ACS880-01 zu laden, musste es erst ein Programm nach IEC61131-3 geschrieben werden, was einen zusätzlichen Zeit- und Dokumentationsaufwand bedeutet. Das Labor von ECC-ProBell verwendet die IEC-Programmierung, um Gruppennamen und -ordner zu generieren, nicht aber um Algorithmen für Antriebsanwendungen zu erzeugen. Die für die Steuerung und Messwerterfassung benötigten Modelle werden in Simulink erstellt, das als Simulationsumgebung an der Hochschule verbreitet ist und den Maschinenbau-Studierenden wesentlich vertrauter ist als die IEC-Programmierung.
An der Fakultät Maschinenbau, die an den Glockentests beteiligt ist, schätzt man die Durchgängigkeit von Simulink und die Vorteile, die es bei der modellbasierten Softwareentwicklung bietet. Als großer Nutzen wird auch der geringere Dokumentationsaufwand zwischen den Anwendungs- und Softwareingenieuren gesehen, weil es nur ein Modell gibt, das alles enthält.
Durchgängige Entwicklungsarbeit
Die Verantwortlichen des Labors wurden deshalb hellhörig, als sie von einer neuen Lösung erfuhren, mit dem Simulink-Codes für ABB-Frequenzumrichter verwendet werden können. Mit dem Crealizer Software Development Kit in Kombination mit der neuen Steuerungsplattform UCON-22 hat ABB das Konzept der programmierbaren Umgebung nun auf die Echtzeit-Welt der Umrichter-Steuereinheit erweitert.
Crealizer ermöglicht die Entwicklung latenzfreier Anwendungen direkt im Umrichter mithilfe von Technologien wie Matlab/Simulink oder der C++-Programmierung. Der Nutzer kann eine Anwendung zunächst mit Hilfe eines virtuellen Antriebs in einer PC-Umgebung simulieren. Anschließend kann er die Anwendung direkt auf den Frequenzumrichter übertragen, ohne dass ein Neustart erforderlich ist. Hinzu kommt eine hohe Cyber-Security. UCON-22 wurde von Grund auf so konzipiert, dass sie kritische Sicherheitsfunktionen wie die Authentifizierung und Verschlüsselung von Firmware, Dateien und Anwendungen sowie eine sichere Konnektivität unterstützt.
Johann Kiderle, Laboringenieur für Regelungs- und Steuerungstechnik an der Fakultät Maschinenbau, erläutert: „Es ist für uns natürlich interessant, dass wir viele Bibliotheken für anspruchsvolle Aufgaben wie die Entwicklung von Algorithmen für künstliche Intelligenz oder für spezielle Steuerungsaufgaben nutzen können. Simulink unterstützt dies und wir können die Bibliotheken dafür verwenden, um komplexe Algorithmen und Steuerungen viel schneller zu erstellen, ohne zusätzliche Software-Tools zu benötigen.“
Die neue Plattform bietet eine hohe Rechenleistung und mehr Speicherplatz für die Erstellung anspruchsvoller Analyse- und Steuerungsanwendungen im Frequenzumrichter. Zusätzlich zur adaptiven Programmierung und IEC61131-Programmierung unterstützt sie auch die Programmierung mit Simulink. Die Anwendungen werden direkt und sicher in die ABB-Software integriert.
Mit einfacher Anwendung begonnen
„Das war genau das, was wir gesucht haben: Den Simulink-Code einfach auf den Frequenzumrichter zu migrieren, ohne die IEC-Programmierung zu benötigen“, sagt Kiderle. Von ABB bekamen die Wissenschaftler die Hardware- und Software-Lizenzen, um eigene Codes und Anwendungen für den Frequenzumrichter zu entwickeln.
„Wir haben zunächst mit einer sehr einfachen Steuerungsaufgabe mit wenigen Parametern begonnen. Nachdem die Anwendung lief, hatten wir für spezielle Forschungszwecke die Parameterzahl deutlich erhöht und mithilfe von Crealizer eigene Parameter entwickelt, um viele Variationen realisieren zu können und Empfindlichkeiten am Antriebsstrang zu finden“, so der Laboringenieur.
Anspruchsvollere Projekte geplant
Prof. Dr. Andreas Stiegelmeyr, zuständig für das Lehrgebiet Mess-, Steuerungs- und Regelungstechnik, Mechanik, Fahrzeugantriebe an der Fakultät Maschinenbau, erklärt: „Im ersten Schritt wollten wir mit den Glockentests eine sehr einfache Anwendung verwenden. Nun haben wir viele Ideen, um Crealizer auf andere Projekte anzuwenden. Das erste Projekt ist eine Idee zur Optimierung von Schlauchbeutel-Verpackungsmaschinen, um eine verbesserte Maschinengängigkeit von Folien in den Maschinen zu erreichen. Mit Simulink können wir einfach entwickeln, simulieren sowie steuern und haben gleichzeitig die Dokumentation parat. Das spart Zeit und Aufwand.“
Ein aktuelles Projekt der Hochschule hat das Ziel, den Verpackungsprozess durch Optimierung der Steuerungsalgorithmen und eine verbesserte Mechanik robuster zu machen. Eine wichtige Aufgabe wird dabei Crealizer zukommen, wodurch die externe Steuerung für die beiden Einzelantriebe in der Serienmaschine entfallen soll. Für eine vorausschauende Steuerung sollen intelligente Algorithmen in den Umrichtern implementiert werden, um den Zustand der Folie und der Kontaktprozesse zu beobachten und das ganze System robuster zu machen.
Zunächst geht es darum, den komplexen Prozess in der realen Maschine zu beobachten. Als weiterer Schritt wird die Entwicklung von Algorithmen für das Antriebssystem gesehen, die eine Künstliche Intelligenz nutzen, die zu jedem Zeitpunkt die gesamten Prozessparameter abschätzt und frühzeitig mögliche Probleme erkennt und durch Änderung von Prozessparametern einen Folienstau verhindert.
Komplexe Algorithmen implementieren
Eine noch komplexere Anwendung ist ein Prüfstand für Fahrzeugbremsen im Labor der Fakultät Maschinenbau, mit dem Bremsen dynamisch getestet werden. Aktuell gibt noch eine externe Steuerung dem ACS880-Multidrive-Frequenzumrichter die Drehmomente und Drehzahlen vor. Durch den Einsatz einer Crealizer-Lösung auf dem Multidrive-System könnte die gesamte Steuerung des Antriebsstrangs auf dem Frequenzumrichter realisiert und dieser extern mit der Echtzeitsimulation eines Automodells verbunden werden.
„Bei dem Prüfstand haben wir es mit sehr anspruchsvollen Algorithmen zu tun. Mittels IEC-Programmierung ließen sich diese nur sehr schwer realisieren, im Gegensatz zu Simulink“, sagt Kiderle und ergänzt: „Ein externes Steuergerät bedeutet mehr Schnittstellen zwischen dem Steuergerät und dem ABB-Antrieb. Die Realisation von Steuerungsfunktionen intern mit Crealizer erspart Schnittstellenarbeit und wir haben mehr Zeit für die eigentliche Entwicklungsarbeit.“
Als weiteren Vorteil sehen beide Wissenschaftler eine deutlich verkürzte Time-to-Market, weil die Entwickler nicht mehr auf Software-Releases des Herstellers warten müssen, um neue anwendungsspezifische Funktionen zu erstellen. Mit Crealizer können sie die Antriebssysteme nach ihren Bedürfnissen einfach anpassen.