Serie Grundlagen der funktionalen Sicherheit - Teil 1 von 4

Schritt für Schritt zur sicheren Maschine

1787, mit den von Edmond Cartwright erstmals eingesetzten automatischen Webmaschinen, begann die Ära der modernen Automatisierung. Hauptmotivation damals war die Erhöhung der Produktivität, an die Sicherheit des Webers wurde kaum ein Gedanke verschwendet. Heute dagegen stehen die Effizienz des Produktionsablaufs und die Sicherheit des Werkers gleichermaßen im Mittelpunkt. Sicherheitstechnik ist heute fester Bestandteil der Automatisierung. Der Weg zur sicheren Maschine lässt sich in acht Schritte aufgliedern, die in dieser und den folgenden drei Ausgaben vorgestellt werden.

Die genaue Kenntnis von dem, was technisch möglich und was rechtlich gesehen erlaubt ist, ist Voraussetzung für eine Ausgestaltung der Sicherheitstechnik, die möglichst großes Potenzial für einen produktiven Betrieb von Maschinen bietet. Den rechtlichen Rahmen zum Thema Sicherheit von Maschinen und Anlagen bildet die Richtlinie 2006/42/EG, allgemein als Maschinenrichtlinie (MRL) bezeichnet. Sie ist der Maßstab, an dem sich die funktionale Sicherheit von Maschinen und Anlagen innerhalb der Europäischen Union messen lassen muss. Man spricht von \’Funktionaler Sicherheit\‘, wenn der sichere Betrieb von Maschinen und Anlagen von der korrekten Funktion der installierten sicherheitsbezogenen Steuerungssysteme abhängt. Die Maschinenrichtlinie beschäftigt sich mit der Standardisierung der europäischen Sicherheitsanforderungen an Maschinen. Die Maschinenrichtlinie hat Gesetzesrang und wurde von den EU-Mitgliedsstaaten in jeweils nationale Gesetze umgesetzt. Für Maschinen, die innerhalb des europäischen Wirtschaftsraums in Verkehr gebracht werden, gibt sie ein einheitliches Sicherheitsniveau vor und gewährleistet so den freien Warenverkehr. Mit der CE-Kennzeichnung dokumentieren Maschinenbauer, dass das Produkt den dafür zutreffenden Richtlinien entspricht. Man spricht daher beim CE-Kennzeichen auch vom \’Reisepass für Europa\‘. Zusammengefügte Maschinen wie Roboterzellen und Fertigungslinien unterliegen ebenfalls dieser Kennzeichnungspflicht. Doch auch Betreiber sind in der Verantwortung, wenn beispielsweise im Rahmen eines Retrofits \’wesentliche Änderungen\‘ an einer Maschine die Neubewertung von Risiken und die Ermittlung des Performance Level (PL) erforderlich machen. Die Maschinenrichtlinie regelt im Wesentlichen die grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsanforderungen, definiert, was eine Maschine ist, beschreibt anwendbare Bescheinigungsverfahren, CE-Kennzeichnung und Konformitätserklärungen sowie die Anforderungen an die Prüfstellen.

Schritt 1: Risikobeurteilung als Schlüssel zur Maschinensicherheit

Maschinenhersteller sind auf dem europäischen Binnenmarkt verpflichtet, ihren Kunden ausschließlich sichere Produkte anzubieten. Sie müssen deshalb vorab alle mit der Maschine verbundenen Gefährdungen ermitteln und die von ihnen ausgehenden Risiken bewerten. Der erste Schritt zur Maschinensicherheit, im Sinne der Maschinenrichtlinie, ist daher in jedem Fall die Risikobeurteilung, mit der im Hinblick auf Bedienung und Funktionsweise der Maschine die einzelnen Risiken nach den geltenden Normen eingeschätzt werden können. Inhalt und Umfang von Risikobeurteilungen werden prinzipiell in keiner Richtlinie vorgegeben, jedoch beschreibt die EN ISO12100 die generelle Vorgehensweise: Ausgehend von der bestimmungsgemäßen Verwendung gilt es, sämtliche relevanten Gefährdungen zu ermitteln – unter Berücksichtigung aller Lebensphasen nach dem erstmaligen Bereitstellen auf dem Markt. Dabei werden alle unterschiedlichen Personengruppen, wie z.B. Bedienungs-, Reinigungs- oder Wartungspersonal, die mit der Maschine in Berührung kommen, beachtet. Für jede Gefährdung wird das Risiko eingeschätzt und bewertet. Maßnahmen, die das Risiko reduzieren, werden nach dem Stand der Technik und unter Beachtung der harmonisierten Normen festgelegt. So besteht beispielsweise bei der Bedienung einer Exzenterpresse Gefahr durch Quetschen und Scheren. Das Risiko wird detailliert beschrieben und es wird eine Einschätzung und Bewertung von z.B. Schwere der Verletzung und Häufigkeit der Exposition abgegeben. Im Anschluss werden die Maßnahmen zur Risikominderung dargestellt, z.B. soweit möglich mit feststehenden trennenden Schutzeinrichtungen. Als technische Schutzmaßnahmen könnten das Einrichten und der Einzelhub-Start ausschließlich durch eine Zweihandbedienung erfolgen. Im Anschluss an diese Betrachtungen wird dann im Rahmen der Risikobeurteilung das mögliche geminderte Risiko dargestellt. Zur Bestimmung auch derjenigen Risiken, die nicht durch, sondern beispielsweise nur durch Abdeckungen oder Einzäunungen, macht der quantitative Ansatz der Pilz \’Hazard rating numbers\‘ (PHR) Sinn. Das von Pilz eingeführte PHR-Verfahren dient mit den zugehörigen Bewertungszahlen der konsequent objektiven und praktikablen Einschätzung der Risiken einer Anlage. Der Maschinenhersteller muss die Maschine dann unter Berücksichtigung seiner Analyse entwerfen und bauen. Risiken werden ermittelt aus der Kombination der Häufigkeit und des Schweregrades möglicher Verletzungen, Gesundheits- oder Sachschädigungen sowie der Möglichkeit oder Unmöglichkeit technischer, organisatorischer oder personenbezogener Schutz- oder Abwehrmaßnahmen. Gleichzeitig wird das Restrisiko ermittelt: Ist es zu hoch, sind weitere Maßnahmen erforderlich. Dieser iterative Prozess wird fortgeführt, bis die notwendige Sicherheit erreicht ist. Das Ergebnis der Risikobeurteilung bestimmt letztlich die Anforderungen an die technischen Schutzmaßnahmen. Das bezieht sich auch auf die zuverlässige Funktionserfüllung z.B. trennender Schutzeinrichtungen. Die Herausforderung bei solchen Projekten besteht sowohl in der Betrachtung und Beurteilung des Gesamtprozesses als auch darin, die einzelnen Risiken richtig einzuschätzen.

Schritt 2: Das Sicherheitskonzept erstellen

Den Ergebnissen der Risikobeurteilung folgend, wird im nächsten Schritt das Sicherheitskonzept erstellt. Das Sicherheitskonzept beschreibt die technischen Maßnahmen und gewährleistet die Sicherheit von Maschinen in Übereinstimmung mit nationalen und internationalen Normen. Ein gutes Sicherheitskonzept berücksichtigt dabei das immer wieder auftretende Spannungsfeld zwischen Schutzeinrichtungen und Produktivität. Ziel ist es, die Kosten für die Umsetzung, das Zusammenspiel zwischen Mitarbeiter und Maschine, sowie Produktivität und Wartungsumfang zu optimieren. Das Sicherheitskonzept bezieht u.a. den Einsatz fester und beweglicher Schutzeinrichtungen, Systeme zum Stillsetzen von Maschinen und Anlagen, Möglichkeiten zum sicheren Abschalten elektrischer Energie sowie unter Druck befindlicher Flüssigkeiten und Gase und das Erkennen von Arbeitern in gefährlichen Bereichen ein. Anhand des oben geschilderten Beispiels der Exzenterpresse werden im Rahmen des Sicherheitskonzepts z.B. folgende Maßnahmen vorgeschlagen: Das Auslösen eines Einzelhubs der Presse sollte durch eine Zweihandbedienung realisiert werden. Gemäß dem Ergebnis der Risikobeurteilung, wie auch den Vorgaben der EN692 ist die Zweihandbedienung nach den Anforderungen der (Steuerungs-)Kategorie 4 zu realisieren. Die Zweihandbedienung muss dann z.B. so ausgeführt sein, dass eine Betätigung beider Taster mit nur einer Hand oder durch andere Körperteile nicht möglich ist. In der nächsten Ausgabe geht es um die Themen Sicherheitsdesign, Auswahl der Komponenten und die Systemintegration.

Exkurs: Wie hängen Gesetze, Richtlinien und Normen in Europa zusammen?

Zunächst formuliert die EU mittels Richtlinien (z.B. Maschinenrichtlinie, Medizinproduktrichtlinie (93/42/EWG) oder EMV-Richtlinie (2004/108/EG)) allgemeine Schutzziele. Diese Schutzziele bedürfen einer genaueren Spezifizierung, die konkrete Regelung erfolgt über Normen. In jedem Land der EU verweist also ein Gesetz oder eine Bestimmung auf die entsprechende EU-Richtlinie und erhebt diese damit zu nationalem Recht. Rechtliche Relevanz erhalten Normen erst durch eine Veröffentlichung im Amtsblatt der EU oder durch nationale Gesetze und Bestimmungen, die diese Normen nennen. Mittels einer solchen Veröffentlichung kann eine Norm die sogenannte Vermutungswirkung erlangen. Diese Vermutungswirkung besagt, dass ein Hersteller davon ausgehen kann, dass die Anforderungen der zugehörigen Richtlinie dann erfüllt sind, wenn er die Vorgaben der Norm erfüllt. Normen bieten ihren Anwendern in erster Linie Rechtssicherheit, in zweiter Linie helfen sie, Kosten zu sparen. Basierend auf der Maschinenrichtlinie, die als europäisches Gesetz für jeden Konstrukteur und Anwender einer Maschine in Europa verbindlich ist, sind Normen als Konstruktionshilfe gedacht. Als sogenannte harmonisierte Normen, das heißt, durch die EU veröffentlichte Normen, machen sie Gesetze für die Konstruktion beziehungsweise den Konstrukteur und die Nutzer anwendbar. Die harmonisierten Normen lassen sich in Typ-A-, Typ-B- und Typ-C-Normen untergliedern. Typ-A-Normen sind Sicherheitsgrundnormen, das heißt, diese behandeln Grundbegriffe, Gestaltungsleitsätze sowie allgemeine Aspekte, die auf Maschinen und Anlagen angewandt werden können. Typ-B-Normen sind Sicherheitsfachnormen, die entweder bestimmte Sicherheitsaspekte oder eine bestimmte Art von Schutzeinrichtung – die aber für eine Reihe von Maschinen verwendet werden können – behandeln. Typ-C-Normen geben als Maschinensicherheitsnormen detaillierte Sicherheitsanforderungen einer bestimmten Maschine oder einer Gruppe von Maschinen wieder.

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Pilz GmbH & Co. KG
http://www.pilz.com

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